Datenschutz war gestern
Von Susanne Knütter
Erst am Dienstag wurde einmal mehr konstatiert: Europa sei zu abhängig von US-Softwareanbietern und chinesischen Hightechprodukten und Rohstoffen. »Digitale Souveränität« war das zentrale Schlagwort des deutsch-französischen Digitalgipfels. Für »unsere gemeinsamen Werte« und »unsere Sicherheit« hieß es, gemeint aber war vor allem »für die Wettbewerbsfähigkeit« der hiesigen Wirtschaft, für einen »Führungsanspruch bei innovativen KI-Technologien« (Bundeskanzler Friedrich Merz). Auf dem Weg zu größerer Unabhängigkeit forderten Berlin und Paris deswegen weniger Vorgaben aus Brüssel. Die bei Unternehmen unbeliebte Datenschutzgrundverordnung sollte gelockert und bei der KI-Regulierung einen Gang zurückgeschaltet werden.
Einen Tag später meldete die EU-Kommission bereits Vollzug. Die Datenschutzgrundverordnung wird »vereinfacht«. Die Auflagen für Techkonzerne beim Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) werden gelockert. Einem am Mittwoch vorgestellten Gesetzentwurf zufolge sollen Unternehmen künftig ihre KI mit den persönlichen Daten europäischer Nutzer trainieren dürfen. Zudem sollen strenge Auflagen für hochriskante KI-Anwendungen erst ab Dezember 2027 gelten und nicht wie ursprünglich geplant ab August 2026, wie die EU-Kommission weiter mitteilte. Zu hochriskanten Anwendungen zählen etwa die biometrische Personenerkennung oder KI im Gesundheitswesen.
Konkret will Büssel näher eingrenzen, wie private Daten rechtlich definiert sind – und damit mehr Daten zur Verarbeitung freigeben. Das heißt, selbst wenn Dritte eine Person aufgrund der Daten identifizieren können, sollen die Daten nicht automatisch als »personenbezogen« und deshalb als geschützt gelten. Statt dessen soll es darauf ankommen, ob Dritte die Daten »realistischerweise« tatsächlich zur Identifizierung nutzen. Außerdem will die EU-Kommission erlauben, KI-Modelle mit persönlichen Daten zu trainieren, wenn ein »berechtigtes Interesse« daran vorliegt. Nach eigenen Angaben will sie damit die Entwicklung neuer europäischer KI-Modelle ankurbeln.
Aus Kommissionssicht sind die Vorschläge ein ausgewogener Kompromiss zwischen Datenschutz und Wirtschaftsinteressen. Datenschützer hingegen warnen, Konzerne in den USA und China könnten leichter Daten europäischer Nutzerinnen und Nutzer abgreifen. Die EU stelle Unternehmensgewinne damit im Grunde über den Schutz der Privatsphäre ihrer Bürgerinnen und Bürger. Viele der EU-Digitalgesetze seien einst explizit mit Blick auf die Dominanz der US-Konzerne konzipiert worden. Die Gruppe None Of Your Business (NOYB, »Geht dich nichts an«) nannte den Gesetzentwurf den »größten Angriff auf die digitalen Rechte der Europäer seit Jahren«.
Tatsächlich kommt die EU-Kommission mit ihren Plänen großen Konzernen entgegen. Und längst nicht nur europäischen. So hatten Dutzende europäische Konzerne, darunter die Lufthansa, Airbus und Mercedes-Benz, schon im Sommer gefordert, die Einführung der KI-Vorgaben zu stoppen. Und auch der US-amerikanische Vizepräsident J. D. Vance hatte – durchaus im Interesse der US-Digitalkonzerne – die EU Anfang des Jahres scharf für ihre Gesetze kritisiert. Die Kommission hingegen weist jeden Einfluss aus Washington zurück: Die Pläne für Änderungen hätten »vor dem Mandat des US-Präsidenten« begonnen, erklärte eine Sprecherin. Zunächst profitieren werden von der Deregulierung – die EU spricht von Vereinfachung – zunächst unter anderem die Alphabet-Tochter Google, die Facebook-Mutter Meta und den Chat-GPT-Entwickler Open AI.
Die Vorschläge der EU-Kommission gehen nun in die Verhandlungen unter den 27 EU-Staaten und im Europaparlament. Dort formiert sich bereits Widerstand: Sozialdemokraten, Liberale und Grüne haben bereits angekündigt, sich gegen ein Zurückrudern beim Datenschutz zu wehren.
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