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Aus: Ausgabe vom 18.11.2025, Seite 6 / Ausland
Nahostkonflikt

Kriegsverbrechen bezeugt

Israel: Seit 7. Oktober 2023 mindestens 98 Palästinenser in Haft gestorben. Soldaten berichten in TV-Doku von ihren Einsätzen in Gaza
Von Jakob Reimann
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Mit dem Leben davongekommen: Palästinenser aus Gaza nach einem Gefangenenaustausch (Rafah, 19.1.2025)

Mindestens 98 Palästinenser sind seit dem 7. Oktober 2023 in israelischen Gefängnissen ums Leben gekommen, »in vielen Fällen offenbar unmittelbar infolge von Folter, medizinischer Unterversorgung oder Nahrungsentzug«. Das geht aus bislang unveröffentlichten Daten der »Physicians for Human Rights – Israel« (PHRI) hervor, über die Yuval Abraham am Montag im israelischen +972 Magazine berichtete. Die meisten Todesopfer stammen aus Gaza. Von ihnen wurde wiederum weniger als ein Drittel vom israelischen Militär selbst als Kämpfer eingestuft. Das bedeute, »dass Israel für den Tod Dutzender palästinensischer Zivilisten in Gewahrsam verantwortlich ist«. Sieben weitere Palästinenser wurden demnach von der Armee erschossen, bevor sie das Gefängnis erreichten. Laut PHRI beruht die Zahl von 98 Toten wahrscheinlich auf einer »deutlichen Untererfassung«, da der Verbleib Hunderter weiterer in Gaza festgenommener Personen ungeklärt sei.

Palästinenser sind in Gefangenschaft oft extremer Gewalt ausgesetzt. Drei palästinensische Jugendliche berichteten nach ihrer Freilassung von Folter durch israelische Einsatzkräfte. Sie waren im Sommer auf ihrer Suche nach Lebensmitteln in Gaza von Soldaten entführt und ins Folterlager Sde Teiman verschleppt worden. Dort wurden sie unter anderem durch Elektroschocks, Prügel, Hunger, Isolationshaft, Schlafentzug, Schläge während des Aufhängens an der Decke oder Angriffe mit Hunden und Blendgranaten misshandelt, bezeugten sie laut Middle East Eye gegenüber der NGO »Defense for Children in Palestine« (DCIP). Auch sensorische Folter wurde eingesetzt, so extreme Kälte und stundenlange Beschallung mit lauter Musik. Die Jugendlichen leiden teils unter Blasenkontrollverlust, Todesangst und Schlaflosigkeit. Der 17jährige Mahmoud überlebte zwei Suizidversuche. Er wurde in eine enge Zelle voller Ungeziefer gesperrt und litt dann an Krätze. Ein Angebot, für umgerechnet 8.000 Euro monatlich als menschliches Schutzschild zu arbeiten, schlug er aus und wurde daraufhin verprügelt. Der 16jährige Faris wurde psychologisch gefoltert, indem ein Wärter fälschlicherweise behauptete, seine Mutter und seine Schwestern seien »vergewaltigt und getötet« worden.

»›Es gibt keine Zivilisten in Gaza‹, hört man ständig«, berichtet der Kommandant einer israelischen Panzereinheit in der vergangene Woche vom britischen TV-Sender ITV gezeigten Dokumentation »Breaking Ranks: Inside Israel’s War«. »Das hört man ständig, also fängt man an, es zu glauben«, sagt er. Eine Majorin schildert ein Gespräch mit dem Rabbiner ihrer Brigade: Er »setzte sich neben mich und verbrachte eine halbe Stunde damit, mir zu erklären, warum wir genau so sein müssten wie (die Hamas, jW) am 7. Oktober 2023. Dass wir uns an allen rächen müssten, auch an Zivilisten.« Ein Hauptmann beschreibt, wie sämtliche Regeln für das Schießen auf Zivilisten ausgesetzt würden. Es sei Willkür, wer als Feind oder Terrorist gelte. Wer zu schnell oder zu langsam gehe, sei verdächtig. Und wenn von drei Männern einer etwas hinterhergehe, sei das »eine Zwei-zu-eins-Infanterieformation«. Eine andere Person bezeugt die Hinrichtung knieender Palästinenser an Nahrungsverteilzentren.

»Alles dort ist eine einzige große Terrorinfrastruktur«, sagt der extremistische Rabbi Avraham Zarbiv, der mehr als 500 Tage in Gaza als Bulldozerfahrer im Einsatz war und als Pionier der systematischen Zerstörung von Wohnvierteln gilt. Bereits im Januar hatte Zarbiv geprahlt, er habe wöchentlich 50 Häuser in Gaza dem Erdboden gleichgemacht und sei an der vollständigen Auslöschung ganzer Nachbarschaften in Rafah oder Dschabalija beteiligt gewesen. Ein israelischer Panzerkommandant beschreibt den systematischen Einsatz von Palästinensern als menschliche Schutzschilde durch israelische Besatzungstruppen. »Das nennt sich das ›Moskito-Protokoll‹«, sagt er: Man schnalle palästinensischen Zivilisten ein I-Phone um und lasse sie Tunnel oder andere mutmaßliche Hamas-Verstecke auskundschaften. Jede Kompanie habe ihren eigenen »Moskito«, das seien »Dutzende, wenn nicht Hunderte, pro Division«.

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