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Aus: Ausgabe vom 15.11.2025, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Vorwärts und nicht vergessen

Gerüche, Geräusche, Gefühle: Frank Jörickes Erinnerungen »Früher war alles anders«
Von Alexander Kasbohm
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Porträt des Autors als junger Mann

Manchmal findet man beim Aufräumen des Dachbodens unter all den Bildern, die einem nichts mehr sagen oder nur vage Erinnerungen hervorrufen, eins, das einem Einlass gewährt, das einen sofort eine bestimmte Stimmung fühlen lässt. Gerüche, Geräusche, Gefühle – alles ist sehr präsent. Frank Jörickes Beobachtungen, die jetzt unter dem Titel »Früher war alles anders« erschienen sind, funktionieren ähnlich wie diese raren Schnappschüsse.

Das Buch ist eine Sammlung von Geschichten, die der Journalist und Werbetexter für den Trierischen Volksfreund geschrieben hat, von dem er den beneidenswerten Auftrag bekommen hatte, eine Serie über die Besonderheiten und Sonderbarkeiten des Aufwachsens in der Bundesrepublik der 1970er und 1980er zu schreiben.

Wenn man, wie der Autor des Buches (und sein Rezensent), von eher melancholischer Grunddisposition ist, haftet jeder Reise in die Vergangenheit (oder grundsätzlich jeder Reise) etwas Wehmütiges, Nostalgisches an. Das zu leugnen wäre unaufrichtig. Exakt da liegt die große potentielle Falle: die des Zurückwollens, die »Früher war alles besser«-Falle. Die sozialen Medien sind voller Memes, mit denen sich die verschiedenen Generationen, vor allem die älteren, über gemeinsame Erinnerungen ihrer Identität versichern und sich gegen ihre Obsoleszenz stemmen. Jörickes Buch funktioniert anders. Es ist eher ein Psychogramm einer Zeit, die in vielen Dingen so völlig anders war als die heutige. Diese Veränderungen hat man kaum bemerkt, während man so durch die Zeit ging. Augenfällig werden sie, wenn man bewusst zurückblickt.

Jöricke verklärt nicht, macht sich auch nicht lustig. Er berichtet. Mit Humor zwar, aber im Wesen nüchtern. Als Zeitreisendem fallen ihm Dinge auf, die einem beim Durchleben in Echtzeit entgangen sind. Seine erzählerische Zurückhaltung eröffnet dem Leser die Möglichkeit, sich mit der eigenen Entwicklung und der Entwicklung der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Zu überlegen, wie wir – als Gesellschaft und Individuen – von dort hierher gekommen sind. Und was zur Hölle falsch gelaufen ist. Nicht weil damals alles besser war. Es war nur anders.

Die Kunst des Autors liegt darin, zu beobachten und zu beschreiben und so Andockmöglichkeiten für die Phantasie oder Erinnerung der Leser zu schaffen. Er ist der Chronist eines Landes vor unserer Zeit. Bernd Begemann hatte insbesondere auf seinen ersten Soloalben in den frühen 1990ern einige Stücke, in denen er auf ähnliche Weise die Atmosphäre der alten Bundesrepublik einfing, dieses – heute vergangenen, damals in seinen letzten Zügen liegenden – Landes, das eben noch mehr Bundesrepublik und weniger Deutschland war. Mit all seiner Betulichkeit, all seinen Beklemmungen und Borniertheiten. Das aber auch ein trügerisches Gefühl der Sicherheit und die geheimen Orte für die unbeobachteten Augenblicke bot, in denen kurzzeitig alles möglich schien.

Die Jahre, in die Jöricke uns mitnimmt, waren Jahre, die von einem Glauben an die Zukunft geprägt waren. Es gab Rassismus, Sexismus, Homophobie und dergleichen. Aber man hatte die Hoffnung, fast den festen Glauben daran, dass der Weg in eine immer bessere, freiere Gesellschaft führen muss. Wenn erstmal die letzten Nazis gestorben sind. Wenn wir alle immer weniger arbeiten müssen und viel mehr Freizeit haben. Wenn sich der Weg, den die Welt in den Nachkriegsjahrzehnten eingeschlagen hat, fortsetzt. Einem aus heutiger Sicht völlig naiven Zukunftsglauben.

Jöricke erzählt, dass er bei der Arbeit an den Kolumnen an Armin Müller-Stahls Schlusssatz in Barry Levinsons Film »Avalon« denken musste: »Wenn ich gewusst hätte, dass es alles nicht mehr geben würde, hätte ich versucht, mich besser zu erinnern.« Denn es gibt keinen Weg zurück, und das ist auch gut so. Es muss vorangehen. Aber dafür ist es wichtig, dass wir uns der Entwicklung erinnern.

Frank Jöricke: Früher war alles anders. Yes Publishing, München 2025, 208 Seiten, 18 Euro

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