»Sei ma’ ehrlich«
Von Ken Merten
Xatar lebt noch: In der Haftbefehl-Dokumentation taucht er auf. Auch im Musikvideo von SSIOs »Alles oder nix«, das im Juni erschien, gut einen Monat nach dem Tod des Rappers und Produzenten Giwar Hajabi. Alles oder nix hieß Xatars Label, das vier SSIO-Alben herausbrachte. Nun legt der Rapper mit der »Kanakonda« in der Hose sein fünftes Album dem früh verstorbenen Mantelträger des Deutschrap aufs Grab.
Aus »BWL«: »Ich sagte zu Tom Bohne: ›Du kriegst eine Platte über Liebesschmerz‹ / Doch ich habe nur gelogen, so wie Friedrich Merz.« Getrauert wird auf »Alles oder nix« erwartbar wenig. Würde SSIO weinen, erst dann wäre Xatar wirklich tot. Statt dessen wird hochtoxisch und hypermaskulin (»Meine Fickfrequenz wird kopiert von Till Lindemann«) durch die Szene gepoltert: »SSIO, ich foltere Deutschrap / Remple ich dich an, sagst du ›Sorry!‹ mit Voicecrack.« Die Beats klingen nach Zeiten, als man Will Smith noch als Hollywoodnachwuchs und jugendfreien Rapper kannte und noch nicht als Scientologypropagandisten und Schellen verteilenden Ehefrauen-Ehrenretter. »Hörst du, wie das Saxophon spielt?« fragt SSIO im Intro. »Das hab’ ich mit meinen Eiern gemacht und krieg’ dann dafür fette Deals mit großen Musikfirmen. Kannst du dir das vorstellen?« Natürlich nicht, aber eigentlich doch. Wir erinnern uns an »Jabi« auf »Messios« (2019) und vermissen Bi-Sprech-Bars vom Ringelnatz des Rap, sind mit »Alles oder nix« aber nichtsdestotrotz beglückt worden.
Wer den Rapper aus Bonn-Tannenbusch bei der Albumtour zu »Messios« live sehen wollte, durfte bestaunen, wie auf der Bühne ein Sarg aufgebaut wurde. Als der Gig begann und sich die Lade auftat, war sie leer. Statt dessen tauchte SSIO plötzlich beim Mischer auf: »Ihr wisst doch, ich komm’ immer von hinten!« SSIO ist die Probe darauf, Humor nur zu grollen, wenn er misslingt, nicht wenn er fies ist, weil er eben manchmal fies sein muss, um zu funktionieren. »SSIO-Alben sind wie drei Jahre Dagestan«, heißt es jetzt in »Tut den Song in eure Playlists und macht viele Tik Toks«. Der Klamauk im Songtitel ist bierernst: Eventim, Spotify und Co. verdienen sich dumm und dusselig daran, dass Typen, die sich am Mic erfolgreich der Therapie entziehen, von den ihr Taschengeld verausgabenden Massen zu Titanen erklärt werden. Mögen die Bühnenhelden auch einen noch so großen Knacks weg haben und Andrew Tate vertonen. »Wer von euch will vom maskulinen Rapgott das nassgeschwitzte Tanktop?« wird im Track mit K.I.Z-Feature, »Ich ich ich ich«, gefragt und frenetisch beantwortet.
Befindlichkeiten ersetzen das Argument, und Ironie sorgt dafür, sich für grundsätzlich unverantwortlich erklären zu können. Währenddessen reicht es für viele nur noch für die Hausmarkenlimo. Zeichen des Abstiegs bei SSIO: die Freeway-Cola. Der »Neandertalahon« rüpelt sich durch den älter und wenig weiser gewordenen Deutschrap als einer, der mit Mafiamentalität und Machismo Klischees überdreht, bis sie knacken. Oder von den Umständen gebrochen werden wie der Nacken vom Kopfnickerbeat. Dazu SSIO: »Sei ma’ ehrlich / Denkst du, ein virales Tik Tok bringt dich raus aus dem Ghettoblock? / Sei ma’ ehrlich / Denkst du, Bullen geben dir, weil du fame bist, keinen Elektroschock? / Sei ma’ ehrlich / Denkst du wirklich, deine Texte fühlt auch dein Labelboss? / Sei ma’ ehrlich / Sorgt deine Bemühung für mehr Wohlstand als ein Mäckes-Job?«
SSIO: »Alles oder nix« (SSIO)
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