Kiew bleibt am Haken
Von Reinhard Lauterbach
Die Europäische Union überlegt, ob sie künftige Neumitglieder nur noch auf Probe aufnimmt. Das bestätigte Erweiterungskommissarin Marta Kos gegenüber der Financial Times vom Dienstag. Kos sagte, sie wolle nicht als diejenige in die Geschichte eingehen, die dem Beitritt von Ländern mit Sympathien für Russland den Weg geebnet habe. Die Mitgliedskandidaten müssten die Gewähr bieten, die Politik der EU-Mehrheit auf allen Gebieten mitzutragen, dafür würden »stärkere Schutzmaßnahmen« in zukünftige Beitrittsverträge aufgenommen. Falls ein neues Mitglied dies nicht leiste, könne auch die Option eines Ausschlusses aus der EU gezogen werden.
Das wäre tatsächlich ein Novum; bisher galten EU-Beitritte immer als unwiderruflich. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij lehnte die Idee umgehend ab. Sein Land könne nur mit allen politischen Rechten der EU beitreten, forderte er und wandte sich auch gegen Überlegungen in Brüssel, die Beitrittsverhandlungen mit Moldau und der Ukraine getrennt zu führen. Mit Chișinău hat die EU wesentlich geringere politische und finanzielle Probleme zu erwarten. Die Kosten für die weitere Unterstützung Kiews schießen derweilen weiter in die Höhe. Die Bundesregierung will die Mittel im kommenden Haushalt um 35 Prozent von jetzt 8,5 auf elf Milliarden Euro erhöhen. Noch nicht inbegriffen sind darin die etwa zwei Milliarden Euro, die es kosten wird, der Ukraine zwei weitere »Patriot«-Luftabwehrsysteme der Bundeswehr zur Verfügung zu stellen und diese anschließend in den USA nachzukaufen.
Die Erklärungen von Kos stehen vor dem Hintergrund der am Dienstag von der EU-Kommission veröffentlichten Bewertung potentieller Beitrittskandidaten. Neben der Ukraine und Moldau wurden die Westbalkanstaaten Montenegro, Albanien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien und Kosovo bewertet. Im sogenannten Fortschrittsbericht für die Ukraine wird einerseits das Bemühen Kiews, sich EU-Standards anzunähern, gewürdigt, andererseits Rückfälle in Bereichen wie der Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz bemängelt. Besonders missfallen hat in Brüssel der Versuch der Kiewer Präsidialkanzlei im Sommer, sich die bisher unter direkter EU-Kontrolle stehenden »Antikorruptionsbehörden« unterzuordnen. Er war nach Druck aus Brüssel zunächst abgebrochen worden, doch berichten deren Vertreter immer wieder von Schikanen und Verfolgungen durch den Selenskij unterstehenden Geheimdienst SBU.
Parallel zu den Entwicklungen in Brüssel verbesserte Selenskij am Mittwoch offenbar seine Position in bezug auf eine NATO-Mitgliedschaft. Beim Treffen der nordeuropäischen Militärkoalition Joint Expeditionary Force (JEF) im norwegischen Bodö erhielt Kiew den Status einer »erweiterten Partnerschaft« mit den zehn JEF-Staaten. Norwegens Verteidigungsminister Tore Sandvik sagte dem Rundfunksender NRK, die Partnerschaft mit Kiew trage dazu bei, die Ukraine auf eine Mitgliedschaft in der NATO »vorzubereiten«.
An der Front verschlechtert sich die Lage für die ukrainischen Truppen unterdessen weiter. Der Generalstab bestritt zwar, dass die Einheiten in Pokrowsk eingekesselt seien, wie es Russland behauptet. Aus der zusätzlichen Aussage der Kiewer Militärführung, alle Anstrengungen konzentrierten sich jetzt darauf, den Nachschub für die in der strategisch wichtigen Stadt ausharrenden Truppen zu sichern, geht aber in der Sache hervor, dass sie wohl zumindest faktisch doch eingeschlossen sind. Russland gibt an, inzwischen 85 Prozent der Stadt zu kontrollieren, und forderte die verbliebenen ukrainischen Truppen am Mittwoch zur Kapitulation auf.
Auf der anderen Seite wächst die Kritik an den Durchhaltebefehlen Selenskijs an die in Pokrowsk stehenden Truppen. Ukrainische Offiziere kritisieren in online veröffentlichten Lageberichten die täglichen Bulletins des Generalstabs als »beschissene Lügen«. Der von Selenskij als Botschafter nach London abgeschobene frühere Oberbefehlshaber Walerij Saluschnij rügte seinen Nachfolger Olexander Sirskij dafür, dass er die Truppen nicht aus Pokrowsk und Umgebung abgezogen habe, solange dafür noch Zeit gewesen sei. Die Bild wollte aus ukrainischen Militärkreisen erfahren haben, Selenskij verweigere alle Rückzugsbefehle, weil er bei US-Präsident Donald Trump den Eindruck eines »harten Burschen« machen wolle.
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