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Aus: Ausgabe vom 31.10.2025, Seite 6 / Ausland
Antikolonialismus

Nichts an Brisanz verloren

Gedenken an Ben Barka in Paris: Sohn des marokkanischen Aktivisten fordert Ende permanenter Rechtsverletzungen Rabats und seiner Verbündeten
Von Jörg Tiedjen, Paris
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Der Sohn des »Verschwundenen«, Bachir Ben Barka (M.), gedachte am Mittwoch abend in Paris seines Vaters

Sechzig Jahre ist es her, seit der marokkanische Freiheitskämpfer Mehdi Ben Barka in Paris von zwei Polizeibeamten auf offener Straße angehalten, in einen Wagen gebeten und nie wiedergesehen wurde. Jedes Jahr treffen sich seitdem am 29. Oktober Angehörige und Aktivisten am Ort seines Verschwindens vor der Brasserie Lipp auf dem Boulevard Saint-Germain. Sie fordern Aufklärung darüber, was mit Ben Barka geschah und wer die Auftraggeber des Verbrechens waren. In einem ersten Gerichtsverfahren 1967 wurde nur der damalige marokkanische Innenminister als Drahtzieher ausgemacht – Geheimdienstunterlagen zu dem Fall bleiben in Frankreich bis heute als Staatsgeheimnis unter Verschluss.

Auch am Mittwoch abend waren zahlreiche Demonstranten gekommen, obwohl der Himmel seine Schleusen über der französischen Hauptstadt öffnete. Dichtgedrängt unter Schirmen verfolgten sie die Rede von Ben Barkas Sohn Bachir, der 15 Jahre alt war, als er seinen Vater zum letzten Mal sah. Er prangerte das enge Bündnis zwischen Marokko und dem Völkermordregime in Israel an. Auch sprach er über ein erst am selben Tag veröffentlichtes Buch des US-amerikanisch-israelischen Journalistengespanns Stephen Smith und Ronen Bergman über »Die Affäre Ben Barka«, das vorgibt, »den größten Skandal der Fünften Republik (in Frankreich) aufzuklären«, wie es im Titel heißt.

Er wolle nicht gleich von einer »falschen Spur« sprechen, die in der Neuerscheinung gelegt wird, sagte Bachir Ben Barka im Anschluss auf einer Podiumsdiskussion in den Räumlichkeiten der Vereinigten Sozialistischen Partei (PSU). Aber er sehe die Enthüllungen des Bandes »mit Zurückhaltung«: so die Behauptung, dass der israelische Geheimdienst Mossad im Auftrag Rabats parallel zu der Entführung einen Mordanschlag auf seinen Vater vorbereitet habe. Auffällig sei, dass eine der wichtigsten Fragen auf nicht nachprüfbare Weise beantwortet werde: die nach dem Verbleib des Leichnams. Der sei an einem Ort beseitigt worden, der heute unzugänglich ist.

Der älteste Kriminalfall, in dem in Frankreich immer noch ermittelt wird, hat nichts von seiner Brisanz verloren. So nahmen auch Vertreter der Bewegung »Gen Z 212«, die in Marokko gegen den sozialen Notstand protestiert, an der Kundgebung teil. Diese Bewegung scheint durch harte Repressionen, Hunderte Verhaftungen und drakonische Gefängnisstrafen weitgehend zum Erliegen gekommen. »Es reicht!« sagte Bachir Ben Barka zu den permanenten Rechtsverletzungen durch Marokko und seine Verbündeten und erinnerte daran, wie sein Vater an den Ort seines »Verschwindens« gelockt worden war: Er wollte im »Lipp« an einer Vorbesprechung für ein Filmprojekt über die Dekolonisierung teilnehmen, nicht ahnend, dass der marokkanische Geheimdienst dahinterstand. Der Film sollte »Basta!« heißen.

Marokko wäre einen anderen Weg gegangen, wäre es dem damaligen König Hassan II. nicht gelungen, die in dem nordafrikanischen Land einst starke Linke auszuschalten, deren populärster Vertreter Ben Barka war. Es war nicht zuletzt die Invasion in der Westsahara, mit der Hassan II. 1975 eine Welle des Nationalismus entfachte und den Rest Opposition gegen seine Tyrannei auf Linie brachte. Ben Barka wiederum setzte sich für Demokratie und Entmachtung der Monarchie, für Bildung, Gleichberechtigung, soziale Gerechtigkeit und einen geeinten Maghreb ein, was den Träumen von einem »Großmarokko« widerspricht. Doch das Königreich wurde zu einer Speerspitze des Neokolonialismus in Afrika.

In Marokko war Ben Barka zweifach zum Tode verurteilt worden. Auch Frankreich und die USA sahen ihn als gefährlichen Aufrührer, da er im Algerienkrieg die Befreiungsfront FLN unterstützte und vor seinem Tod die Trikontinentale Konferenz 1966 in Havanna organisierte. Auf ihr gab Ernesto Che Guevara, ein Vertrauter Ben Barkas, die Parole aus, dass es gelte, »ein, zwei, viele Vietnams« zu schaffen, um den Imperialismus zu besiegen. Ein Vermächtnis Ben Barkas ist der Text einer seinerzeit nicht gehaltenen Rede mit dem Titel »Die revolutionäre Option«. Auf sie berief sich eine Teilnehmerin der Podiumsdiskussion und betonte, dass sie heute so aktuell sei wie nie.

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