Späte Einsichten
Von Wolfgang Nierlin
Nur verschwommen und undeutlich ist zu sehen, wie ein Zug durch eine nebelgraue Winterlandschaft fährt. Unterbrochen wird die eher abstrakte Fahrt von weiteren farblosen Bildern, die zeigen, wie ein unbekannter Mann kontrolliert, erkennungsdienstlich erfasst und schließlich eingesperrt wird. Der vorgeblich politisch Verdächtige nennt sich James Larkin White (Albrecht Schuch) und beansprucht – nomen est omen –, ein unbeschriebenes Blatt mit unklarer Identität zu sein. Jedenfalls wehrt er sich vehement dagegen, als jener gesuchte Bildhauer Anatol Ludwig Stiller (Sven Schelker) zu gelten, der sieben Jahre zuvor fluchtartig die Schweiz verließ und seither als vermisst gilt. »Ich bin nicht Stiller«, wiederholt White wie ein Mantra. Und: »Wie soll man beweisen, dass man jemand nicht ist?« Der Anblick seines verschwommenen Spiegelbildes legt jedoch nahe, dass sich sein Fall nicht einfach lösen lässt und die Angst vor identifizierbaren Festlegungen auch die Flucht vor einer verschatteten, unbewältigten Vergangenheit einschließt.
Stefan Haupts gleichnamige Verfilmung von Max Frischs berühmtem 1954 erschienenen Roman »Stiller« kommt sehr schnell zu ihrem Thema, tritt dann aber lange auf derselben Stelle, obwohl die Handlung gegenüber der literarischen Vorlage zwangsläufig reduziert ist. Eine – wenngleich schematische – Dynamik erhält die stockende filmische Erzählung allenfalls dadurch, dass in einer Parallelmontage Stillers gedeckt farbige Vergangenheit mit Whites grauer Gegenwart in Zürich verschränkt wird. Als Bindeglied fungiert dabei die Ballettänzerin Julika (Paula Beer), was der Schweizer Regisseur nutzt, um einerseits eine ziemlich klischeehafte und obendrein kitschige Liebesgeschichte zu erzählen, andererseits, um ein Künstlerdrama anzudeuten. Denn die hochfliegenden Ambitionen der an Tuberkulose erkrankten Tänzerin und das krisenhafte Schaffen des psychisch labilen, an sich selbst leidenden und scheiternden Bildhauers prallen bald unversöhnlich aufeinander.
Einmal heißt es: »Entweder wir verzweifeln daran, wir selbst sein zu wollen, oder daran, nicht wir selbst sein zu wollen.« In diesem schier unlösbaren Dilemma, für das an einer Stelle das Bild einer spiralförmigen Treppe erscheint, steckt der Protagonist des Films. Seine schmerzliche Begegnung mit Julika, in der sich die schwierige Beziehung der beiden Künstler spiegelt, führt schließlich fast unfreiwillig zu späten Einsichten und zur Arbeit an der je eigenen Identität. Das bedeutet in dieser mitunter etwas zähen und vordergründigen Romanadaption vor allem eine Auseinandersetzung mit der Liebesfähigkeit des in sich selbst gefangenen Helden, während die kritische Auseinandersetzung mit seinem Heimatland sowie seine Erfindung angeblich wahrer Geschichten als Zeugnisse einer möglichen anderen Identität eher unterbelichtet bleiben. Schließlich öffnet sich eine Tür ins unbeschriebene Helle, das jedoch – entsprechend der Sprache des Romans – nicht ohne begrenzenden Rahmen bleibt; und sei es derjenige der Leinwand.
»Stiller«, Regie: Stefan Haupt, Deutschland 2025, 99 Min., Kinostart: heute
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