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Aus: Ausgabe vom 30.10.2025, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Ein Leben im Hasenkäfig

Vexierspiel: Thea Mantwills Roman »Glühfarbe«
Von Matthias Reichelt
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Thea Mantwill liest

Thea Mantwills Romandebüt »Glühfarbe« könnte als Geschichte einer Emanzipation, einer Ablösung und Selbstermächtigung beschrieben werden. Doch die Betonung liegt auf »könnte«. Denn die Autorin zieht in ihrem zwischen Phantastik und Realismus changierenden Roman sowohl ihrer namenlosen Protagonistin wie auch dem Leser den Boden unter den Füßen weg. Immer wieder müssen wir uns bei der Lektüre fragen, wo wir uns befinden, was auf der Erzählebene wirklich geschieht, was imaginiert wird und wo der virtuelle Raum beginnt. Interessanterweise befasst sich Mantwill, die sich ursprünglich als bildende Künstlerin einen Namen machte, in ihrer Malerei und ihren Installationen immer wieder mit Grenzüberschreitungen, wie sie in einem Gespräch mit der Literaturvermittlerin Maria-Christina Piwowarski anlässlich einer Lesung im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin erzählte.

Die weibliche Ich-Erzählerin lebt mit ihrem Partner Buster, einem ausgebildeten Tänzer ohne Engagement, in einem Raum unter einer verlassenen und heruntergekommenen Fabrikhalle, aus der es durch die Decke auf Bettzeug und Matratze tropft. Die Autorin siedelt die Handlung »in einer so glaubhaften wie bedrohlichen Zukunft« an, wie es im Klappentext heißt. Beide Pro­tagonisten leben in mehr als prekären Verhältnissen, sind mittellos und verfügen neben der Matratze nur über einen Kühlschrank und einen Wasserkocher. Eine Unterkunft wie ein »Hasenkäfig« mit »Futterstelle, Schlafstelle und Waschstelle«. Die Fabrikhalle, vor der sie oft auf einer Veranda sitzen, ist umgeben von »hübschen, winzigen Häusern«, die so aussehen, »als ob sie gerade erst verlassen worden« seien. Aus den glaslosen Fenstern wehen die Gardinen, aber in einem Haus brennt ein Licht und erhellt einen Sessel neben dem Regal mit Büchern. Auf einem Buchrücken ist der Titel »Rebecca« zu erkennen. Daphne du Mauriers Roman von 1938? Das bleibt so offen wie die Frage, in welchem Land wir uns befinden. Vor der abgetakelten Fabrik liegt der Wohnpark mit »übereinander in den Himmel gestapelten« Wohnungen, alle Balkons mit der gleichen Markise. Die uniforme Investorenarchitektur aller westeuropäischen Städte. Der Wohnpark liegt so, »wie um unsere klägliche Behausung vor der Stadt zu verstecken«.

Mantwill spielt deutlich auf die heutige Gentrifizierung an; wer über Wohnraum verfügt, hat mehr als das Prekariat. Dem Paar fehlen die »richtigen Dokumente«, die ihre »Wohnfähigkeit« bezeugen würden. »Nur keine Angst vor Scheiße an den Händen: Wir leben darin, und es ist eure Scheiße.« Im Brecht-Haus bejahte Mantwill, dass sie antikapitalistische Motive darstelle, betonte aber zugleich, dass Termini wie »Kapitalismus« nicht zu ihrem Vokabular zählten.

Jeden Tag bricht Buster auf, um sich Arbeit zu suchen, während die Erzählerfigur, die sich als »güldenes Moltofill für ein leeres Leben« beschreibt, die spärlichen Einkäufe in einem merkwürdigen Lebensmittelladen erledigt. Dort darf sie sogar einzelne Nüsse und Minimalmengen anderer Artikel erwerben, weil das Geld für mehr nicht reicht. Eines Tages trifft sie auf einen neuen Angestellten. Zwischen ihm und der Erzählerin ereignen sich merkwürdige Dinge, die alles ein wenig aus dem Ruder laufen lassen. Den Rest des Tages verbringt sie mit Flanieren und dem Warten auf Busters Rückkehr. Dieser lässt immer häufiger auf sich warten, schließt sich Akrobaten an, die an Ampeln die wartenden Autofahrer unterhalten. Die Erzählerin ist darüber nicht amüsiert, da er sich damit künstlerisch unter Wert verkauft. Die Beziehung bröckelt. Mit einem Smartphone (woher das Geld dafür kommt, wird nicht erklärt) tritt sie ein ins Metaverse, die virtuelle Welt. Ihre Posts verschaffen ihr nicht nur Follower, sondern auch Vorteile beim kostenfreien Zugang zu diversen Ressorts wie dem ominösen Kingfisher-Café.

Die offenkundig sehr talentierte Mantwill erzählt mit zarter und manchmal auch deftiger Sprache. Ihr Vexierspiel mit Wirklichkeit, Phantasie und Virtualität ist allerdings so verschachtelt, dass nicht jeder ihm wird folgen wollen.

Thea Mantwill: Glühfarbe. März-Verlag, Berlin 2025, 156 Seiten, 22 Euro

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