Am großen Strom Morgana Kretzmanns Roman »Die Stimmen des Yucumã«
Von Angelo Algieri
All meine Geschichten entstehen im Umland des Rio Uruguay«, schreibt die brasilianische Schriftstellerin Morgana Kretzmann. Tatsächlich spielen seit ihrem Debütroman »Ao pó« (etwa: »Zu Staub«) ihre Erzählungen an besagtem Strom, dessen Lauf die Grenze zwischen Brasilien und Argentinien bildet. Kretzmann selbst wurde in der Nähe des Rio Uruguay, in der Kleinstadt Tenente Portela im südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul geboren. Sie kennt die Befindlichkeiten der Menschen dort ebenso wie die Bedeutung des Flusses, der den größten Längswasserfall der Welt durchfließt. Er wird auf argentinischer Seite Saltos del Moconá, auf brasilianischer Seite Salto Yucumã genannt – Kretzmanns zweites Werk heißt in deutscher Übersetzung denn auch »Die Stimmen des Yucumã«.
Im Zentrum stehen drei Frauen, deren Leben durch alte Schuld, soziale Kämpfe und politische Umbrüche miteinander verknüpft sind. Chaya arbeitet als Rangerin im Turvo-Nationalpark nahe der fiktiven Stadt Dourado. Gemeinsam mit ihrem Team jagt sie Wilderer, die es auf Jaguare und Tapire abgesehen haben. Als ein Einsatz eskaliert, erschießen die Ranger einen Mann aus den Reihen der »Pies Rubros« – einer Schmugglergruppe, angeführt von Chayas Cousine Preta. Diese agiert aus Notwendigkeit. In einer Region voller ökonomischer Not bleibt illegaler Handel oft der einzige Weg zum Überleben. Die dritte im Bunde ist Olga, Chayas frühere Freundin. Sie arbeitet als Assistentin eines korrupten Abgeordneten und wird nach Dourado geschickt, um ein geplantes Wasserkraftwerk am Rio Uruguay in der Gemeindeversammlung zu verteidigen. Doch Olga, selbst aus der Region stammend, stößt auf Widerstand – allen voran von Chaya, die mit anderen Aktivisten die Versammlung boykottiert. Das Kraftwerk soll Energie liefern, verspricht Arbeitsplätze. Doch es würde zugleich sensible Ökosysteme und kulturelle Heiligtümer zerstören. Olga will nicht länger schweigen. Der Abgeordnete unterschlägt Gelder, belästigt sie sexuell und hält sie mit einem Hungerlohn klein. Schließlich flieht Olga mit belastendem Material im Gepäck nach Argentinien. Auf dieser Flucht kreuzt sich ihr Weg erneut mit denen von Chaya und Preta.
Kretzmann thematisiert eindringlich die ökologischen und sozialen Konflikte der Peripherie. Sie erzählt nicht nur von der drohenden Zerstörung durch Megaprojekte wie das real geplante Kraftwerk Garabí-Panambi, sondern auch vom Widerstand der lokalen Bevölkerung. Zudem verwebt Kretzmann unaufdringlich Umwelt- und Gesellschaftskritik mit spirituellen Elementen: Der Fluss selbst wird als lebendiges Wesen begriffen, das man um Erlaubnis bitten muss, bevor man hineingeht. Dass es vor allem Frauen sind, die sich gegen die zerstörerische Allianz aus männerdominierter Politik und Wirtschaft auflehnen, verleiht dem Roman zusätzliche Kraft. Kretzmanns Sprache ist dabei ebenso eindringlich wie poetisch, ihre Figurenzeichnung komplex und glaubwürdig.
Morgana Kretzmann: Die Stimmen des Yucumã. Aus dem Portugiesischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Insel-Verlag, Berlin 2025, 261 Seiten, 24 Euro
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