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Aus: Ausgabe vom 24.10.2025, Seite 11 / Feuilleton
Ballett

Kuscheln ist Lebensrecht

Schicksalsrad aus Menschenleibern: »Carmina Burana« von Edward Clug am Ballett Dortmund
Von Gisela Sonnenburg
Meute Mensch: Eine Übung in symbolhafter Schlichtheit
Wie tanzt man die Krone der Schöpfung?

Wer bei einer tänzerischen Umsetzung der »Carmina Burana« an kitschige Mittelalterbildchen und lautstarken Kampftanz in knallig bunten Klamotten denkt, kann zuhause bleiben. In der Inszenierung von Edward Clug, die am Sonnabend beim Ballett Dortmund Premiere feierte, geht es ums pure Menschsein. Fein ziseliert und höchst ästhetisch. Sie beginnt in der Stille, zeigt die Menschheit als harmonisch und synchron sich im Kreis scharende Masse. Das Schicksalsrad ist aus Menschenleibern gemacht: Tänzerinnen und Tänzer bilden einen Pulk und umfassen, mit gebeugten Knien und nach vorn geneigtem Oberkörper, ihren jeweiligen Vordermann, ihre jeweilige Vorderfrau. Das Kollektiv ist hier alles. Und Kuscheln ist ein Lebensrecht.

Mit im Detail raffiniert ausgeklügelten, gestisch ausdrucksstarken Tanzschritten setzt sich hier die Menschheit in Bewegung. Beginnen die berühmten Klänge von Carl Orff mit dem Chor »O Fortuna«, sitzt man als Zuschauer im Parkett mitten im musikalischen Geschehen. Denn der Chor ist im ersten Rang des Opernhauses Dortmund plaziert, während das Orchester unten im Graben aufspielt, dirigiert vom jungen, dynamischen Generalmusikdirektor Jordan de Souza. Der Kinderchor fehlt, doch die Orff gemäß streicherlosen Flöten-, Bläser- und Schlagzeugrhythmen der Dortmunder Philharmoniker erzeugen eine jugendlich-frische Energie. Exzellent singen Chor und Solisten: die Damen lyrisch, die Herren kraftvoll.

Carl Orff imaginiert in seiner 1937 uraufgeführten, von Film, Werbung und Fernsehen reichlich benutzten »Carmina« ein Mittelalter, dessen Musik im Grunde ein Geheimnis ist. Wie klang Musik im 11. Jahrhundert? Man kann nur spekulieren. Orff orientiert sich an einfachen, folkloristischen Rhythmen. Edward Clug begegnet dem mit Purismus, mit einer in sich geschlossenen modernen Tanzsprache. So wähnt man sich zugleich in der Gegenwart und irgendwie im Mittelalter. Was sonst ist Zivilisation, wenn nicht ein Miteinander?

Hier geht es auch ums Miteinander der Kulturgeschichte. Das Bewusstsein, in der Scala naturae, der Daseinskette, nicht nur die Krone der Schöpfung zu sein, sondern dafür etwas tun zu müssen, ist keineswegs ein rein humanistischer Gedanke, schon im Mittelalter gab es den Ansatz. Clugs Ideal: vom Guten das Schöne, vom Edlen das Hilfreiche, vom Sinnlichen das Überragende. Über allem schwebt ein eisenfarbener Ring, der manchmal auch als Sitzbank dient. Symbolhafte Schlichtheit.

Die Gewänder der Tanzenden erinnern in ihrem Faltenwurf an die Figuren gotischer Dome. Kostümbildner Leo Kulaš hat lange getüftelt, bis er Kleidchen und Hosen entworfen hatte, die, unisex getragen, den Tanz betonen. Die Farben sind Rubinrot und Schwarz. Eckige, manchmal kantige Bewegungen prägen das Repertoire von Clug ebenso wie fließende, lieblich-grazile Tanzschritte. Gelegentlich werden die Gewänder ausgezogen und zu Requisiten. In nude steht dann so manches Paar wie Adam und Eva.

Die Meute Mensch teilt sich in Frauen und Männer. Letztlich geht es um die Liebe, um die Spannung zwischen den zur Liebe bereiten Menschen. Das Libretto vom Jahreszeitenwechsel übernimmt Clug nicht von Orff. Der Komponist, ein Nazi-Mitläufer, der zugleich hervorragende Arbeit mit Texten von Heinrich Heine leistete, ließ sich von der im 19. Jahrhundert im Kloster Benediktbeuern gefundenen »Carmina Burana« (»Lieder aus Beuern«) inspirieren. Rund zwei Dutzend dieser mehr als 250 Lieder- und Szenentexte fasste Orff zu seiner »Carmina« zusammen.

Edward Clug wiederum, der seine Karriere als Tänzer und Choreograph unter Tomaž Pandur in Maribor (Slowenien) startete, schuf die erste Fassung seiner »Carmina« 2019 mit einem kanadischen Ensemble. Danach studierte er das Stück in Maribor ein. Seine dritte Fassung, die Dortmunder, sei die beste, so der Choreograph kurz vor der Premiere.

Mit Tänzern wie Simon Jones, ­Simone Dalè, Samuel Bassler und vor allem Javier Cacheiro Alemán, mit Ballerinen wie Sae Tamura und Daria Suzi ist das allerdings kein Wunder. Zudem glänzt das um das NRW Juniorballett ergänzte Ballett Dortmund insgesamt mit akkuraten, innig getanzten, niemals routiniert oder seelenlos wirkenden Gruppenszenen. Das Ballett Dortmund hat unter der neuen Führung von Jaš Otrin wieder einen Coup gelandet.

Nächste Vorstellungen: 26. Oktober, 7. und 9. November

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