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Hühner

Von Helmut Höge
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Täglich werden knapp zwei Millionen Hühner in Deutschland geschlachtet, jährlich sind es weltweit laut der Welternährungsorganisation (FAO) 68 Milliarden Hühner. Dieses Massensterben hat epische Ausmaße (Homer), aus Sicht der Hühner ist es eine Tragödie (Aischylos). Es gibt aber auch Hühnerkomödien (Aristophanes). Da ist etwa die massenhaft aufs Land oder an den Stadtrand ziehende Mittelschicht, die sich Hühner anschafft, quasi als Haustiere. Dazu gibt es entsprechende Hühnerbücher. Die slowenische Philosophin Alenka Zupančič wiederum fragt in »Der Geist der Komödie« (2014), was das Komische ausmacht, und erzählt unter anderem zwei Hühnergeschichten.

In einer halluziniert ein Mann, ein Saatkorn zu sein. Er kommt in eine psychiatrische Klinik, wo es den Ärzten gelingt, ihn davon zu überzeugen, dass er kein Korn, sondern ein Mensch ist. Kaum hat er die Klinik verlassen, ist er auch schon wieder zurück: Im Klinikpark sei ein Huhn, er habe Angst, gefressen zu werden. Aber Sie wissen doch genau, dass Sie kein Korn sind, sagt der Arzt, sondern ein erwachsener Mann. Sicherlich weiß ich das, aber sind Sie sicher, dass das Huhn es auch weiß?

In der zweiten Geschichte ist es, wenn man so will, das Huhn, das fürchtet, von einem Verrückten gefressen zu werden. Die Szene ist aus Charlie Chaplins Film »Goldrausch«: Der Tramp (Chaplin) und Big Jim sind in ihrer Hütte eingeschneit, sie sterben vor Hunger. Big Jim bildet sich ein, der Tramp wäre ein fettes Huhn. Wenn er nach ihm schnappt, verschwindet es, taucht dann abermals als eingebildetes Huhn auf, worauf Big Jim den Tramp mit einem Messer durch die Hütte jagt.

Nachdem die Szene bereits abgedreht war, hatte Chaplin eine bessere Idee: Er bestellte ein Hühnerkostüm in seiner Größe, um Big Jims Halluzination zu verkörpern. Philosophin Zupančič schreibt: »Erst hiermit wurde das ganze komische Potential der Szene zum Leben erweckt, weil sie nicht länger einfach ausgehend von der Diskrepanz zwischen dem, was Charlie ist und wie der andere ihn sieht (nämlich als Huhn) konstruiert ist, sondern etwas anderes hinzufügt. Sie bringt die huhnhaften Eigenschaften des Menschen-Charlie selbst ans Licht.«

Tatsächlich sehen wir, wie Chaplin (als Tramp) »die Elemente, die haargenau den Bewegungen des Huhns entsprechen«, zur Schau stellt. Für Zupančič Höhepunkt der Komödie: Nicht allein, dass Big Jim fälschlicherweise ein Huhn sieht, wenn er den Tramp ansieht, sondern er außerdem irgendwie recht hat, weil Chaplins Figur tatsächlich wie ein Huhn aussieht und sich auch so bewegt. »Wir könnten auch sagen: Um die Krise zu lösen, reicht es für Big Jim nicht aus, zu realisieren, dass das Huhn, das er vor sich sieht, eigentlich sein Freund ist – das Huhn selbst muss realisieren, dass es in Wirklichkeit Charlie Chaplin ist.«

Nebenbei bemerkt gibt es auch einen Sänger namens Charlie Huhn – in der englischen Band Foghat. Bekannter ist die DDR-Schriftstellerin Elke Kahlert, die viele Kinder- und Jugendbücher geschrieben hat und außerdem ein paar Tierbücher. Eins heißt: »Ich wollt’, ich wär’ ein Huhn. Sinn und Unsinn« (1972).

Ich persönlich sammele Fotos von Menschen, die sich anlässlich einer (Faschings-)Party verkleidet haben – als Hund, Katze, Hase, Fledermaus etc. Was ich durchaus als ersten Schritt einer empathischen Einstellung einem Tier gegenüber deute, denn viele der Verkleideten bemühen sich, sich ihrer Kostümierung entsprechend zu verhalten. Sie haben einen Begriff des Tieres, das sie darstellen. Drei meiner Fotos zeigen Paare, die sich als Hühner verkleidet haben, darunter eins von einem Ehepaar, das im Tierpark Cottbus gearbeitet hat, er als Elefantenpfleger, sie als Vogelpflegerin. Beide wissen sehr viel über Tiere – nicht bloß über Hühner.

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