Siedlerkolonialismus wütet weiter
Von Helga Baumgarten, Jerusalem
Freudige Hoffnung in Gaza: Der Völkermord hört endlich auf! In Jerusalem ist davon nichts zu spüren. Hier herrscht der Siedlerkolonialismus ungebrochen. Tausende von Menschen, so die Schätzung von Munir Nusseibeh, der das Community Action Center in der Altstadt leitet, leben in einer Art Schwebezustand, präziser: Sie sind offiziell abgeschrieben, sind eigentlich gar nicht existent. Kinder, Teenager, junge Leute, die hier geboren und aufgewachsen sind, aber nie eine offizielle israelische Aufenthaltsgenehmigung erhalten haben, eine »Jerusalem ID« oder »Hawija« auf arabisch. Ohne dieses Dokument ist ein normales Leben unmöglich: Man kann kein Bankkonto eröffnen, keinen Scheck einlösen, nicht raus aus der Stadt, weder nach Israel noch in die Westbank. Denn an jeder Militärkontrolle muss man seine ID vorzeigen.
Besonders schlimm ist das für junge Menschen, die heiraten wollen. Munir erzählt mir von einem Mädchen, das sich verlobt hatte. Als es um die Unterzeichnung der Heiratspapiere ging und klar wurde, dass sie keine ID hatte, wurde die Verlobung gelöst. Nach zwei weiteren Versuchen brachte die Familie ihre Tochter nach Ramallah, wo sie schließlich heiraten konnte. Und sie hofft, dass sie wenigstens dort einen Westbankausweis erhält. Inzwischen können junge Menschen aus Jerusalem im Prinzip keine Palästinenser aus der Westbank (von Gaza gar nicht zu reden) heiraten. Denn es ist schlicht unmöglich geworden, dass eine junge Frau oder ein junger Mann aus der Westbank eine Genehmigung erhält, nach Jerusalem zu kommen. Wenn man sich verliebt, heißt das: raus aus der Stadt und Verzicht auf die ID.
Was macht das Community Action Center? Es unterstützt Palästinenser in Jerusalem, wenn sie mit den israelischen Besatzungsbehörden zu tun haben – Besatzung, obwohl Israel Ostjerusalem längst annektiert hat. Palästinensische Jerusalemer sind 1980 keine israelischen Bürger geworden. Vielmehr leben sie mit einem Sonderstatus, der ID, die einen ständigen Aufenthalt in der Stadt ermöglicht. Allerdings kann Israel diesen Aufenthaltsstatus jederzeit, z. B. aus politischen Gründen, entziehen. Seit 1967 mussten etwa 15.000 Menschen ihre Heimatstadt verlassen.
Das Community-Zentrum ist offen für jeden. Man kann einfach dorthin kommen, ohne einen Termin zu machen, und erhält sofort Hilfe. Viele bitten darum, dass man ihnen israelische Formulare ausfüllt oder überhaupt erst einmal übersetzt: Briefe von der Stadt, offizielle Rechnungen, Strafzettel. All diese Papiere bekommt man nur in hebräischer Sprache. Entscheidend ist die Unterstützung, wenn es darum geht, eine ID zu verlängern bzw. die Verlängerung zu beantragen. Schwieriger wird es, wenn man »Lam Schamel« zur Familienzusammenführung beantragt oder eine ID für Ehepartner von außerhalb. Das größte Problem sind Beschlüsse der Stadt, ganze Häuser oder Wohnungen abzureißen, wenn keine Baugenehmigung vorliegt. Das 1999 gegründete Zentrum beschäftigt drei Rechtsanwälte und einen vierten in Teilzeit. Alle Hilfe ist für die Antragsteller kostenlos. Finanziert wird das Zentrum von der Al-Kuds-Universität, die dafür viel Unterstützung erhält. Munir wurde 2013 Direktor, neben seiner Professur an der Universität.
Die Lage für die Menschen in Jerusalem wird zusehends schwieriger. Immer neue Bestimmungen machen das Leben in der Stadt zu einem ständigen Kampf. Das Vorgehen der Behörden folgt einem Muster: Erst wird die Praxis verändert, nach Jahren kommt dann die gesetzliche Regelung. Die Perspektiven schätzt Munir sehr negativ ein. Er befürchtet, dass der nördlich gelegene Stadtteil Kufr Akab direkt nach der Militärsperre von Kalandia, wo die große Mauer rund um Ostjerusalem verläuft, der Westbank zugeschlagen wird. Damit würde Jerusalem 120.000 seiner bis dato 350.000 palästinensischen Bewohner verlieren. Da die Stadt außerdem die östliche Siedlung Ma’ale Adumim annektieren möchte, hätte Jerusalem plötzlich eine jüdische Bevölkerungsmehrheit.
Am Vorabend von Sukkot, dem Laubhüttenfest, gingen wir auf unserem Weg zum Zentrum vom Neuen Tor aus durch die Altstadt. Überall sahen wir orthodoxe Juden, die Laubhütten bauten, und überall wehten riesige israelische Fahnen: Die Zahl der kolonialistischen Siedler im muslimischen Teil der Altstadt hat enorm zugenommen. Das Zentrum ist regelrecht eingeschlossen von diesen Häusern, die meist auf sehr undurchsichtige Weise von den Kolonialisten übernommen wurden.
Dem versucht das Zentrum mit internationalem Engagement entgegenzuhalten: bei der UNO, bei der EU, vor dem Menschenrechtsrat in Genf und den Internationalen Gerichten in Den Haag. In letzter Zeit konzentriert man sich stärker auf den globalen Süden und adressiert etwa die Afrikanische Kommission für Menschenrechte und Rechte der Völker in Gambia.
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