»Im Wahn der Anderen«
Von Peter Merg
Kennen Sie László Krasznahorkai? Sie könnten ihn kennen: Der S. Fischer Verlag hat eine zweistellige Anzahl seiner Bücher auf den deutschen Markt gebracht, Übersetzungen aus dem Ungarischen versteht sich. Denn der Mann ist Ungar, lebt in Ungarn, dürfte auch dort bleiben, wenn er nicht mal wieder auf eine seiner Weltreisen aufbricht, etwa nach Fernost, wo er sich reichlich inspirieren ließ, oder eben im Dezember nach Stockholm.
Da bekommt er nämlich den Literaturnobelpreis. Man hätte es wissen können. Die Buchhalter hatten ihn auf dem Zettel. Die You-Tube-Kommentatoren allerdings nicht, die kurz bevor es Donnerstag mittag losging mit der Liveübertragung aus der Schwedischen Akademie, routiniert Thomas Pynchon, Haruki Murakami oder Don DeLillo forderten, Salman Rushdie interessanterweise nicht. Dass es ein Mann werden würde, wahrscheinlich aus Europa, konnte man sich ausrechnen. Denn die Akademie achtet seit einigen Jahren auf strenge Quotierung und letztes Jahr bekam den Preis … Dings, die Südkoreanerin, Sie wissen schon. Die kann tatsächlich was. Sagte der Kollege.
Krasznahorkai kann auch was. Sagte Susan Sontag. Und W. G. Sebald. Und er selbst. Allen bislang Unbelesenen riet er irgendwann bevor er 2015 den ebenfalls nicht eben unwichtigen Booker Prize bekam: »Wenn es Leser gibt, die meine Bücher nicht gelesen haben, könnte ich ihnen nichts zum Lesen empfehlen; statt dessen würde ich ihnen raten rauszugehen, sich irgendwo hinzusetzen, vielleicht an einen Bach, ohne etwas zu tun, ohne etwas zu denken, einfach nur still zu sein wie die Steine. Irgendwann werden sie jemanden treffen, der meine Bücher bereits gelesen hat.«
Das ist ein bisschen anmaßend und sehr komisch. Zumal er seinem ersten Roman »Satanstango« (1985) den Kafka-Satz »In dem Fall verpasse ich die Sache, indem ich darauf warte« vorangestellt hatte. Aber so viel Zeit, am Bach zu sitzen und die Kulturwelt Kulturwelt sein zu lassen, haben wir nicht. Die Stockholmer Jury schreibt, Krasznahorkai erhalte den Preis »für sein fesselndes und visionäres Werk, das inmitten apokalyptischer Schrecken die Kraft der Kunst bekräftigt«. Worin Sontags Wort vom »Meister der Apokalypse« anklingt, sie verglich ihn mit Gogol und Melville. Was einerseits an den grotesken Szenarien vieler seiner Romane liegt, andererseits an den sehr langen, gewundenen Sätzen. Punkte mag er nicht so. Die Stockholmer lieben das, sie fanden ja schon Jon Fosses »Heptalogie«-Romane spitze. Kostprobe gefällig, wieder von Krasznahorkai? Der erste Satz von »Melancholie des Widerstands« (1985) ist noch eher kurz: »Als der Personenzug, der die in Frost erstarrten Siedlungen der südlichen Tiefebene von der Theiß bis fast zum Fuß der Karpaten verband, doch nicht einfuhr – trotz der wirren Erläuterungen des ratlos an den Schienen lungernden Eisenbahners und der immer beschwörenderen Versprechungen des von Zeit zu Zeit nervös auf den Bahnsteig tretenden Stationsvorstehers (›Tja, Herrschaften, der hat sich wieder mal verdrückt‹, meinte der Eisenbahner und winkte mit säuerlichem Gesicht hämisch ab) –, setzte sich der Entlastungszug, der lediglich aus zwei nur in sogenannten Sonderfällen verwendbaren, gebrechlichen Holzbankwagen und einer überalterten 424er bestand, erst mit gut anderthalb Stunden Verspätung im Verhältnis zu dem für ihn sowieso nicht gültigen und ohnehin nur annähernd eingehaltenen Fahrplan in Bewegung, damit die Einheimischen, die das Ausbleiben des aus westlicher Richtung erwarteten Zuges mit ziemlichem Gleichmut und zaudernder Ergebenheit hingenommen hatten, doch noch über die restlichen fünfzig Kilometer der Nebenstrecke ans Ziel kämen.« Sätze wie dafür bestimmt, ins Deutsche übertragen zu werden. Da kann man bei einer Lesung nach dem Anfang des Satzes rausgehen, eine Kippe rauchen, wieder reinkommen und hat trotzdem alles Wesentliche mitbekommen, sagte Harry Rowohlt sinngemäß gerne.
In »Satanstango« dämmert ein Dorf dem Untergang des Sozialismus entgegen, dann erscheint ein Trickster und spielt alle gegeneinander aus. In »Melancholie des Widerstands« ist es ein geisterhafter Zirkus. In »Herscht 07769« (2021) trifft der Terror Thüringen. Sein letzter deutschsprachiger Band »Im Wahn der Anderen« (2020) versammelt Erzählungen aus der Sicht eines Dämon oder eines Virus, vielleicht beides. Das ist satanisch, lustig und sehr passend zu dieser völlig zerfallenden, zerfasernden und verblutenden Gegenwart, in der selbst Linke andere am liebsten in den Tod gehen sehen, der Reinheit ihrer Dystopien willen. Man kann den Akademie-Mitgliedern nur gratulieren. Sie haben eine gute Wahl getroffen.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (13. Oktober 2025 um 11:08 Uhr)László Krasznahorkai ist ein Großmeister literarischer Intensität. In souverän gefügten, kunstvoll verschlungenen Sätzen entwirft er in seinen Romanen Bilder heruntergekommener Wirklichkeiten, enttäuschter Hoffnungen und der zerstörerischen Logik gesellschaftlicher Verhältnisse. Er ist ein politischer Autor – doch nicht im alltäglichen Sinn. Im Spiegel seiner unverkennbar politischen Romane zeigt sich: Was wir gemeinhin »Politik« nennen, ist nur eine blasse Nachahmung jener grotesken Parodie, die Krasznahorkai im Text neu erschafft. Darin liegt eine singuläre künstlerische Leistung – und gerade das ist entscheidend. In Ungarn ist er umstritten, doch bleibt er ein europäischer Autor von Weltgeltung. Gewaltige Visionen einer anderen Welt durchziehen sein Werk; Heilsversprechen entstehen – und stürzen in sich zusammen. In der Melancholie seiner Bücher wohnt stets ein Funken Humor: als wäre er das eigentliche Agens eines freieren, besseren Lebens.
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