Der Fall Wagner
Von Vincent Sauer
Der alte Mann von Seite zwei ist tot: Ein Vierteljahrhundert hat Franz Josef Wagner Bild-Leser täglich mit Briefen, seiner »Post von Wagner«, beglückt. Mehr als ein halbes Jahrhundert war er dem Springer-Konzern zu Diensten, zehn Jährchen verdingte er sich abtrünnig bei Burda. Wagner glich seelisch diese lebenslängliche Servilität gegenüber dem Mediengroßkapital aus, indem er ungeniert sogenannten Spitzenpolitikern, Fernsehgrößen, Sportstars, Volkszornanfälligen u. v. a. m. die Leviten las. Ja, Wagner war römisch-katholisch, verheiratet, Vater, ergo anständig! Die kleinen, ehrlichen Bitte-Bild-mir-meine-Meinung-Leute durften nicken bei der Lektüre, erbost den Kopf schütteln oder gleich gesunden Schaum vorm Mund entwickeln.
Die Urteilsfindung wurde ihnen abgenommen, wenn Wagner klarstellte, dass »die deutsche Mutter« keine Mutter wie die seine mehr sein will, zu viele Ausländer viel zu undankbar sind, bedenke man etwa sein Vertriebenenschicksal (s. u.). Die Probleme mit Frauen führten auch zu der einen oder anderen Klage, die sich Springer aber leisten konnte. Generell galt: nach unten treten. Aus seiner Charlottenburger Wohnung schrieb der »Gossen-Goethe« auch der sprachlosen Dingwelt: Im Winter war manchmal der Schnee dran, veganes Essen bekam sein Fett weg, am 22. Juni noch verfasste Wagner einen Liebesbrief an den B-2-Tarnkappenbomber, da er »bunkerbrechend hinunterreicht ins Reich des Bösen« (Iran). Diesen Brief muss man natürlich im Zusammenhang lesen mit dem an den »schrecklichen Ajatollah Chamenei« vom 18. Juni, den Wagner als »bösesten Opa der Welt« bezeichnete. Infantilität ist Trumpf!
Bild-Opa Wagner († 82) kam 1942 im damaligen Sudetenland in Olmütz (heute Olomouc) zur Welt. Nach der »Vertreibung« wuchs er in Regensburg auf. Dem Lehrerkind gelang es, bei den Domspatzen im Chor aufgenommen zu werden, aber er packte nicht das Abitur. Der junge hochgewachsene Bursche begab sich auf Reisen, jobbte im Ausland. In München begann dann die Arbeit bei Bild als Reporter. Man kann sich Wagner als umtriebigen, lebenshungrigen Menschen vorstellen, daher vielleicht die lange verheimlichte Freundschaft mit Andreas Baader. Er verdiente sich weitere Sporen als Kriegsberichterstatter und brachte es zum Chefreporter.
Dann folgten ab 1988 die Burda-Jahre: Wagner sollte für die badischen Medienmillionäre u. a. Illustrierte auf den Markt bringen, die sich speziell an ein ostdeutsches Publikum richteten. Dabei fielen ihm und seinem Team die Namen Superillu und Super! ein. Letztere titelte mal »Angeber-Wessi mit Bierflasche erschlagen«. Trotzdem war Burdas Vorhaben, Springer im Osten Konkurrenz zu machen, kein Erfolg. Einige von Wagners Untergebenen bewiesen in ihren Artikeln doch eine Spur zu viel Phantasie.
1998 kehrte Wagner zurück zum Springer-Imperium und rackerte dort als Chefredakteur der B. Z., bevor Kai Diekman ihm die Stelle »Chefkolumnist« einrichten ließ. Und so ging es los mit der Briefeschreiberei. Seine 2010 erschienene Autobiographie trug dann auch den Titel »Brief an Deutschland«. Ghostwriter für von der westdeutschen Mehrheit anerkannte Vollstars war Wagner übrigens auch, schrieb etwa für Beckenbauer »Ich – wie es wirklich war«. Mit Wagners Tod am 7. Oktober ist die Kleinbürgerzauberkraft der Springerschen Sprachflachheit weniger geworden.
Tageszeitung junge Welt am Kiosk
Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Mehr aus: Feuilleton
-
Gruß von drüben
vom 08.10.2025 -
Rotlicht: Southeast Asia Treaty Organization (SEATO)
vom 08.10.2025 -
Nachschlag: Kranker Hahn Europas
vom 08.10.2025 -
Vorschlag
vom 08.10.2025 -
Veranstaltungen
vom 08.10.2025 -
Methodischer Kniff
vom 08.10.2025 -
Zuviel gebügelt
vom 08.10.2025 -
Die Wahl des Zeitpunkts
vom 08.10.2025