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Aus: Ausgabe vom 04.10.2025, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage
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Der letzte Weg des Walter B.

Künstliche Intelligenz und intellektuelle Kunst: Der Wert des Manuskriptes
Von Rudolf Stumberger
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Trügerische Sicherheit: Schild an der französisch-spanischen Grenze am Wanderweg Chemin Walter Benjamin

Chat-GPT: »Die schwarze Aktentasche von Walter Benjamin ist ein zentrales Symbol und ein literarisches Motiv, das eng mit seiner Person und seinem Schicksal verknüpft ist. Benjamin, der bekannte deutsche Philosoph, Kulturkritiker und Literaturwissenschaftler, trug die Aktentasche während seiner letzten Reise, die ihn 1940 vor den Nationalsozialisten aus dem von den Nazis besetzten Frankreich in die USA führen sollte.«

Der Weg, den Walter Benjamin im September 1940 bei seiner Flucht vor den Nazis nahm, führt vom Stadtzentrum aus nach Norden. Banyuls-sur-Mer ist eine kleine Stadt im Süden Frankreichs, in der Nähe der spanischen Grenze am Mittelmeer gelegen. An der Strandpromenade finden sich die Tische und Stühle der Restaurants und Cafés, in denen die Einheimischen und die Urlauber sitzen. Jetzt, im September, ist die Saison zwar vorbei, doch das Zentrum der kleinen Stadt wirkt noch lebendig. Direkt am Strand gelegen ist auch das örtliche Tourismusbüro und drinnen versorgen zwei junge Frauen die Interessierten mit Flyern und Broschüren. Über Walter Benjamin haben sie hier nur einen Aktenordner mit ein paar Informationen; und sie verkaufen eine Geländekarte im Maßstab 1:25.000, auf der der letzte Weg von Walter Benjamin eingezeichnet ist.

Dieser Weg führt zunächst entlang des einbetonierten Flusses hinaus aus der Stadt, der hier eine Schneise durch die Wohnhäuser zieht. An der Eisenbahnüberführung wendet er sich nach links und führt unter den Gleisen hindurch über eine Brücke hinauf in den Vorort Puig del Mas. Schließlich geht es am Fuße einer Steintreppe ein paar Gärten entlang, bis man sich links an die asphaltierte Straße hält, die sich in langgezogenen Kurven durch die Weinberge zieht. Jetzt hängen hier die saftigen, schwarzblauen Reben an den Weinstöcken. Nach einer guten halben Stunde zweigt der Weg nach rechts von der Asphaltstraße ab und führt durch das ansteigende Gelände. Ein Wegweiser auf zwei Holzpfählen erklärt auf Französisch, Spanisch, Englisch und Deutsch: »Auf diesem Weg floh Walter Benjamin am 24. September 1940 nach Spanien, um der Nazi­macht zu entkommen«. Darunter hat jemand mit Filzstift geschrieben: »No Borders, No Nations.« Als Walter Benjamin diesen Weg ging, war er 48 Jahre alt und sorgte sich wegen seiner Herzschwäche. Die Antifaschistin Lisa Fittko, die zu dieser Zeit Flüchtlinge nach Spanien führte, erinnert sich an die schwere Aktentasche, die Benjamin bei sich führte: »Es kam darauf an, einige Menschen vor den Nazis zu retten, und da war ich nun mit diesem komischen Kauz, dem alten Benjamin, der sich unter keinen Umständen von seinem Ballast, von dieser schwarzen Ledertasche trennen würde. So mussten wir das Monstrum wohl oder übel über das Gebirge schleppen.«

ChatJPT: »Es gibt verschiedene Theorien und Spekulationen über den Inhalt der Aktentasche. Einige Historiker glauben, dass sie Benjamins letzte, noch nicht veröffentlichten Schriften sowie Manuskripte seiner Forschungsprojekte enthielt. Leider sind die Details über die genauen Inhalte der Tasche und ihr späteres Schicksal nicht eindeutig geklärt, da die Tasche und der Inhalt nicht vollständig dokumentiert wurden.«

Schließlich mündet der Pfad auf einer unasphaltierten Straße, die zum Kamm hinaufführt. In einer Linkskurve glaube ich den Ort zu erkennen, den Lisa Fittko als »Hochebene mit sieben Pinien« beschreibt. Die Bäume stehen freilich am Straßenrand, und ich frage mich, ob sie wirklich schon über 80 Jahre alt sind. Die Steinstraße wäre ein bequemer Weg, doch das wusste damals auch die Grenzpolizei, und so führt der »Chemin de Walter Benjamin« wieder nach rechts in das Gelände und folgt einer schmaleren Straße, die schließlich im Gebüsch endet. Hier beginnt linker Hand der Aufstieg auf den Kamm, zunächst noch im Schatten der Bäume. Nach und nach wird der Weg zum Trampelpfad und zusehends beschwerlicher. Nun gilt es, große Steinblöcke zu überwinden, bisweilen auf allen Vieren. Teilweise fällt rechter Hand der Abhang ziemlich steil ab, hinunter in unwegsames Gelände. Die letzte Etappe hinauf zum Kamm ist sehr anstrengend, ich wundere mich, wie sie der herzkranke Benjamin seinerzeit wohl gemeistert hat. Obwohl jetzt eine gute Jahreszeit für Wanderungen ist, bin ich bisher auf dem Anstieg alleine gewesen. Jetzt erst treffe ich auf ein Pärchen, das auf einer Lichtung rastet. Schließlich erklimme ich die letzten Meter bis zum Kamm und überquere die spanische Grenze. Der Wind bläst heftig und ist unangenehmen, sowohl vor mir als auch hinter mir kann ich das Blau des Mittelmeeres sehen. Ab hier muss sich Walter Benjamin wohl am Ziel gefühlt haben. Eine trügerische Hoffnung.

ChatJPT: »Einige Quellen berichten, dass die Aktentasche von den spanischen Behörden beschlagnahmt wurde, während andere sagen, dass sie von einem Freund Benjamins, der die Tragödie mit ihm teilte, an sich genommen und später an die Familie Benjamin übergeben wurde.«

Der Weg hinunter nach dem spanischen Portbou dauert an die zweieinhalb Stunden. Er führt schließlich zur Rückseite des mächtigen Bahnhofs der kleinen Stadt, der wie ein Sperriegel zwischen den Bergen und den Häusern liegt. Um ihn zu passieren, bedarf es eines Tunnels unter den Geleisen, in dem sowohl die Straße als auch ein betoniertes Bachbett verläuft. Es fühlt sich an wie ein schwarzes Loch, in dem man verschwindet. Da der Tunnel einer Linkskurve folgt, ist das andere Ende nicht zu sehen, man bleibt im schummrigen Licht der Straßenlampen. Auf der Rückseite des Bahnhofs befinden sich die Rangiergleise, die Kläranlage und der Sportplatz. Auf der anderen Seite führen die Straßen hinunter zum Meer.

Die letzte Zuflucht von Walter Benjamin lag in der Carrer del Mar Nr. 7, in der Meeresgasse. Dort steht heute als das mittlere von drei Häusern ein vierstöckiges Gebäude. Damals befand sich hier das Hotel de Francia und im rückwärtigen Zimmer Nr. 4 im zweiten Stock verbrachte Walter Benjamin seine letzten Stunden. Nachdem die spanischen Behörden sein fehlendes französisches Ausreisevisum bemängelt hatten und ihn am nächsten Tag zurück nach Frankreich abschieben wollten, hatte sich Walter Benjamin in der Nacht nach seiner Ankunft das Leben genommen.

Von der Carrer del Mar ist es nicht weit hinunter bis zum Meer, die Stadt schmiegt sich an eine Bucht, die in der Mitte aus einem Badestrand besteht und links in steinigen Klippen ausläuft. Rechts führt die Uferpromenade an zwei großen Restaurants vorbei – angeblich fahren die Franzosen über die Grenze hierher, weil das Essen billiger ist –, stößt dann auf einen modernen Betonklotz, das Rathaus, wendet sich nach links, umrundet einen Felsvorsprung und mündet schließlich in der nächsten Bucht im dortigen Jachthafen. Oberhalb der Straße liegt am Ortsrand der Friedhof von Portbou. Hier wurde Walter Benjamin am 28. September 1940 begraben und hier wurde am 15. Mai 1994 der ihm gewidmete Gedenkort »Passagen« eröffnet, konzipiert vom israelischen Künstler Dani Karavan.

Auf dieses Denkmal stößt man auf dem Vorplatz des Friedhofs, noch bevor man ihn betreten hat. Es handelt sich um einen rostfarbenen Schacht, der keilförmig im Boden klafft. Er verschwindet in der Erde, um nach einigen Metern wieder als eiserne Rinne ins Freie zu treten, das Stahlstück durchbohrt das Gelände und sein Ende tritt oberhalb der Straße, die in den Jachthafen führt, wieder aus. Der Schacht ist begehbar, nachdem man die Stufen der dunklen Passage hinter sich gelassen hat, gelangt man ins Freie, vor sich das Blau des Meeres. Doch die Treppe endet an einer Glaswand, darunter der Abgrund. In das Glas sind Schriftzüge graviert, es handelt sich um zwei Sätze aus Walter Benjamins »Über den Begriff der Geschichte«: »Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.«

ChatJPT: »Ein weiteres Element der Tragödie dieser Aktentasche ist der symbolische Aspekt: Sie steht für Benjamins Versuch, vor dem totalitären Regime zu fliehen und gleichzeitig die kulturellen und intellektuellen Werte zu retten, die in seinen Arbeiten vertreten sind. Die Aktentasche ist daher nicht nur ein persönlicher Gegenstand, sondern auch ein Symbol für das Scheitern von intellektuellem Widerstand und die Zerstörung einer bestimmten Art von Wissen und Kultur durch die politischen Verhältnisse der Zeit.«

Der eiserne Schacht ist ein Bestandteil des Gedenkortes von Karavan, dazu gehören auch noch ein eisernes Treppenstück und eine Stahlplatte, beide entlang der Friedhofsmauer angebracht. Auch auf dem Friedhof befinden sich Denkmale für den deutschen Philosophen, darunter ein Grabstein. Seine vorläufig letzte Ruhestätte hatte Walter Benjamin freilich in einer Grabnische in der Friedhofsmauer gefunden, das Grab war aber nur für fünf Jahre bezahlt. Danach wurde der Leichnam in ein anonymes Massengrab überführt.

Die schwarze Aktentasche wurde seinerzeit in das Sterberegister eingetragen, neben anderen wenigen Habseligkeiten. Doch das mysteriöse Manuskript blieb verschwunden, trotz intensiver Nachforschungen. Vielleicht hat es auch gar kein Manuskript gegeben.

ChatJPT: »In der Kulturgeschichte und der Benjaminschen Forschung spielt die schwarze Aktentasche eine Rolle als Mahnmal für das Scheitern der emigrierten Intellektuellen und für die Frage, wie Wissen in extremen politischen und historischen Situationen überlebt oder verloren geht.«

Walter Benjamins bekanntester und aus Universitätsseminaren seit den 1970er Jahren nicht wegzudenkender Aufsatz ist »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. Darin beschreibt er den Verlust der »Aura« eines Kunstwerkes, die in der technischen Reproduktion desselben abhanden kommt. Dem Betrachter der Reproduktion ist es verwehrt, die Einbettung des Kunstwerkes in die Geschichte und die Situation wahrzunehmen. Heute wäre zu fragen, ob ein intellektueller Diskurs im Ozean des digitalen »Content« überhaupt noch möglich ist, oder ob ihm nicht auch eine Grundbedingung abhandengekommen ist, das Wechselspiel von Wahrnehmung und Relevanz.

Chat-GPT: »Die Frage, ob ein Intellektueller wie Walter Benjamin heute noch denkbar ist, berührt mehrere Aspekte: die veränderten gesellschaftlichen, technologischen und ökonomischen Bedingungen sowie die Rolle des Intellektuellen in einer digitalen und globalisierten Welt.«

Wenn Walter Benjamin seine schwarze Aktentasche über die Grenze nach Spanien schleppte und ihm das darin liegende Manuskript so wichtig war, dass er sich nicht davon trennen wollte, verweist das auch auf die materiellen Grundlagen der Intellektuellenexistenz: Sein Produktionsmittel ist die Schrift. Die Schrift spielt in der Hierarchie der Medien eine wichtige Rolle, nimmt man den ökonomischen Zugriff auf Medien als Maßstab. Die Schrift (und damit die Zeitung und das Buch) ist für jene sozialen Klassen das wichtigste Medium, deren Ausstattung an Kapital gering ist. Demgegenüber leistet sich das Bürgertum »teure« Medien wie den Rundfunk, den Film und das Fernsehen, die für die Arbeiterbewegung höchstens in Ansätzen nutzbar waren.

Der historische Umbruch Ende der 1990er Jahre – weg von der analogen hin zur digitalen Welt mit dem Internet als Verbreitungsmedium – hat diese Verhältnisse revolutioniert. Die Produktion eines Filmes in HD-Qualität ist heute auch für Laien (finanziell) möglich, die Verbreitung im Netz im Grunde unbeschränkt. Derweil läuten viele für die gedruckte Zeitung bereits das Totenglöcklein. Das Wort als Schrift im Text ächzt unter dem Ansturm der Bilder, das Visuelle überwuchert den Text.

Chat-GPT: »Digitalisierung und Globalisierung: Die digitale Welt hat den Zugang zu Informationen demokratisiert, aber auch die Anforderungen an Aufmerksamkeit und Präsenz erhöht. Ein Intellektueller wie Benjamin müsste sich heute auf Plattformen wie sozialen Medien, Blogs oder Podcasts behaupten.«

Wenn neue Medien auftauchen, kann das mit dem Verlust der Autorität bestehender Institutionen einhergehen. Der Buchdruck machte der Kirche Feuer unter dem Hintern und das Fernsehen in den 1960er Jahren bot den visuellen Zugang zu bislang versperrten Orten, dem Operationssaal zum Beispiel oder den Chefetagen. Epochal scheinen die Digitalmedien, welche die bisherigen Autoritäten der Wissensvermittlung wie die etablierten Zeitungskonzerne und Fernsehanstalten in Frage stellen, indem über vielfältige »alternative« Plattformen eigene Erzählungen verbreitet werden. Den Abwehrkampf führen die etablierten Medien mittlerweile mit Wahrheitswächtern, den »Faktencheckern«, die den Weg in die richtige Richtung weisen sollen. So löst das Digitale die Autorität auf, aber auch gleichzeitig die gesamte Struktur bisheriger Textzusammenhänge.

Der Verlust der Reputation des gedruckten Wortes aber ist nicht allein der digitalen Revolution geschuldet, die Texte zu »Content« herabwürdigt und einem gnadenlosen Kampf der Aufmerksamkeitsökonomie ausliefert, der alles Bisherige in den Schatten stellt. Sondern auch dem Verschwinden von Referenzkräften der Texte in der realen Welt. Mit anderen Worten: Das Gewicht beziehungsweise die Durchschlagskraft von Texten hat etwas damit zu tun, welche Gruppen diese Texte wahrnehmen, für wichtig und richtig befinden – und dann gesellschaftlich handeln. Dieses Handeln – oder zumindest die Handlungsmöglichkeit – stellt dabei das entscheidende Moment dar, sozusagen die gesellschaftlich relevante Aura des Textes. Wenn Émile Zola mit seinem offenen Brief »J’accuse« die Dreyfus-­Affäre ins Rollen bringt, dann nur, weil er die liberalen und sozialistischen Kräfte der Dritten Republik in Frankreich anspricht und mobilisiert. Wenn Walter Benjamin sein Manuskript über die spanische Grenze schleppt, dann nur, weil er ihm diese gesellschaftlich relevante Aura zuschreibt. Die Kraft des Wortes in der Geschichte der Arbeiterbewegung ist untrennbar verbunden mit der Kampfkraft ebendieser Bewegung. Das gilt ebenso für die US-amerikanische Bürgerrechts- und anderen gesellschaftlichen und sozialen Bewegung. In diesem Sinne lässt sich die gegenwärtige Relevanz von intellektuellen Texten bestimmen: Sie gehen ins Leere.

Chat-GPT: »Auch heute gibt es Intellektuelle, die disziplinübergreifend denken. Allerdings ist der öffentliche Diskurs stärker fragmentiert, was es schwieriger macht, breite Aufmerksamkeit zu gewinnen. Während Benjamin ein tiefes, oft langsames Denken praktizierte, verlangt die heutige Medienlandschaft häufig schnelle, prägnante Beiträge. Während Intellektuelle früher oft isolierte Autoritäten waren, stehen sie heute in Netzwerken und müssen mit anderen Stimmen koexistieren. Öffentlichkeitsarbeit ist für Intellektuelle unverzichtbar.«

Walter Benjamins ökonomische Situation war vor allem im französischen Exil eine prekäre. Er konnte oder wollte sich nicht proletarisieren. Das Manuskript in der schwarzen Aktentasche war so auch das einzige, das Benjamin gegen Geld eintauschen konnte. Der unabhängige Intellektuelle ist in historischer Sicht sowieso eher eine Einzelerscheinung. Privatdozenten wie der Soziologe Georg Simmel konnten nur deshalb eine intellektuelle Existenz führen, da das väterliche Erbe die finanzielle Grundlage dafür bot.

War bisher also schon klar, dass sich von unabhängiger intellektueller Arbeit nicht leben ließ, so treibt die rasante Entwicklung und Anwendung von künstlicher Intelligenz diese Tendenz noch weiter. Sie leistet zwar keine kreative Arbeit, sondern greift die ungeheure Menge an Informationen im Internet ab, produziert aber so den »Content« für eine Vielzahl von Formate, der bisher von Menschen erstellt wurde. Damit sind praktisch alle Berufe bedroht, die irgendwie mit Abbildungen, Zeichen und Symbolen arbeiten, sei es bei Texten, Musik, Film, Fotografie oder auch der Sprachübersetzung. Hier wird es künftig Produkte geben, die mit geringen Kosten und Aufwand entstehen, während die Jobs für Menschen wegfallen. Man kann sagen, das war schon immer so mit der Entwicklung der Produktivkräfte, und anderswo sind neue Arbeitsplätze entstanden. Doch das Ausmaß dieser Entwicklung ist noch völlig unklar.

Chat-GPT: »Früher wurden Intellektuelle oft von Universitäten, Verlagen oder staatlichen Institutionen getragen. Diese Strukturen sind heute prekärer, und viele Intellektuelle arbeiten freiberuflich oder parallel in anderen Berufen. Intellektuelle, die in der Lage sind, ihre Ideen einem breiten Publikum zugänglich zu machen (z. B. durch populärwissenschaftliche Bücher, Vorträge oder Medienpräsenz), haben bessere Chancen, von ihrer Arbeit zu leben. Viele Intellektuelle kombinieren akademische Tätigkeiten, Vorträge, Publikationen und gelegentlich öffentliche Auftritte, um ein Einkommen zu erzielen. Viele Intellektuelle, vor allem im geisteswissenschaftlichen Bereich, leben in unsicheren Verhältnissen, insbesondere wenn sie nicht fest an Institutionen gebunden sind. Fazit: Ein Intellektueller wie Walter Benjamin ist auch heute denkbar, aber die Rahmenbedingungen haben sich massiv verändert. Vom intellektuellen Schaffen zu leben, ist möglich, aber meist nur unter der Bedingung, dass Intellektuelle sich auch ökonomischen und medialen Herausforderungen stellen.«

Betrachtet man die intellektuelle Arbeit und sozialstrukturelle Entwicklung als Zusammenhang, gilt es auch darüber nachzudenken, ob das Intellektuelle nicht ein Auslaufmodell ist. Wenn die TINA-Formel (Margaret Thatcher: »There is no alternative«) dergestalt zur gesellschaftlichen Hauptperspektive geworden ist, dass es eben auch keine Alternative mehr im Denken gibt, dann hat sich die Funktion des Intellektuellen erledigt. Das hat dann auch damit zu tun, dass es sozialstrukturell keine sichtbaren Subjekte mehr gibt, die nach Alternativen verlangen. Klassengegensätze und gesellschaftliche Widersprüche scheinen sich im Meer fragmentierter Individuen aufzulösen. Der Rechtspopulismus mit seiner anti-intellektuellen Attitüde (wofür Trump ziemlich exemplarisch steht) greift das Sehnen nach Gemeinschaft auf, einsame Einzelne sind auf sich selbst zurückgeworfen – eine Position, aus der es kein Hinausdenken mehr zu geben scheint. War der Intellektuelle früher der Schamane der Utopie, so kann er heute nur noch ein Schatten vergangener Medien- und Klassenverhältnisse sein. Walter Benjamins Manuskript zusammengeschrumpft auf Tik Tok oder auf Instagram? Am besten wohl auf Twitter.

Rudolf Stumberger lehrt als Privatdozent Soziologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und arbeitet als freier Journalist und Publizist in München.

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