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Aus: Ausgabe vom 02.10.2025, Seite 12 / Thema
Italienischer Kolonialismus

Die Kolonialträume des »Duce«

Vor 90 Jahren überfiel Italien Äthiopien. Im sogenannten Abessinienkrieg starben 750.000 Menschen – viele durch Giftgas
Von Gerhard Feldbauer
Die italienische Armee setze im Krieg gegen Äthiopien massiv Giftgas ein
Unter dem Oberkommando von Ras Kassa Hailu (Mitte) fochten die äthiopischen Truppen einen zunächst aussichtslosen Kampf. Eine komplette Einnahme des Landes gelang den italienischen Faschisten aber nicht.

Mussolinis Überfall auf Äthiopien im Oktober 1935 war eine Aggression im Vorfeld des Weltkrieges. Palmiro Togliatti hatte auf dem VII. Weltkongress der Komintern im Juli vom »Hineinschlittern in einen neuen Weltkrieg«¹ gesprochen. Der britische Historiker Eric Hobsbawm schrieb rückblickend von der Furcht, dass Europa »der Katastrophe entgegenschlitterte«; man wusste, dass ein zweiter Weltkrieg bevorstand.²

Mit dem Überfall wollte der italienische Imperialismus, der ähnlich wie der deutsche bei der Aufteilung der Welt zu spät gekommen war, zunächst sein ostafrikanisches Kolonialreich vollenden, um dann »die Kolonialkarte Afrikas zu ändern, um damit die Frage der Neuaufteilung der Welt praktisch zu stellen«, wie Togliatti ausführte.³ Dabei wollte Italien seine Position gegenüber Deutschland stärken, das im Ersten Weltkrieg in Afrika seine Kolonien verloren hatte und sich unter Hitler anschickte, diese zurückzuerlangen. Der »Duce«, der mehr als ein Jahrzehnt vor Hitler an die Macht gekommen war und eine Vorreiterrolle für faschistische Regime in Europa gespielt hatte, wandte sich gegen die von Hitler verfolgten Vorherrschaftsansprüche. Als die Nazis nach der Ermordung des österreichischen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß im Juli 1934 in Österreich einmarschieren wollten, hatte er Wien Unterstützung zugesagt und vier Divisionen an die Brennergrenze geschickt. Hitler zahlte ihm das nach dem Überfall auf Äthiopien heim und schickte anfangs Waffen an den äthiopischen Kaiser Haile Selassie I.⁴ Nach einem Angebot Mussolinis vom 6. Januar 1936 wurden die Meinungsverschiedenheiten über die Österreich-Frage jedoch beigelegt. Am 6. November 1937 trat Italien dem sogenannten Antikominternpakt bei.

Grünes Licht aus Paris und London

Angesichts der Unterstützung Mussolinis für Österreich versuchte Frankreich, Italien, den Verbündeten des Ersten Weltkrieges, für eine antideutsche Allianz zu gewinnen. Rom hatte zwar von Anfang an nicht die Absicht, ein solches Bündnis einzugehen, nährte aber die Hoffnungen eine Weile, um sie für die Anerkennung seiner Expansionsabsichten in Afrika zu nutzen. Und obwohl Mussolini seine Expansionsziele offen verkündete, ließen ihn Großbritannien und Frankreich deshalb gewähren. Während eines Besuchs am 7. Januar 1935 in Rom vereinbarte der französische Außenminister Pierre Laval mit dem »Duce« in einem Geheimvertrag die Unterstützung der französischen Politik im Mittelmeer durch Italien, während Frankreich »freie Hand« für das italienische Vorgehen in Äthiopien gewährte. London, das um seine angrenzenden Kolonien Kenia und Uganda sowie den anglo-ägyptischen Sudan fürchtete, versicherte Mussolini, dass seine Interessen in Ostafrika nicht beeinträchtigt würden.

Wie gegenüber Deutschland wurde die britische Position zu Italien ebenfalls von der antisowjetischen Stoßrichtung der Londoner Außenpolitik bestimmt. Die Konservativen hatten Mussolini schon seit seinem Machtantritt 1922 unverhohlene Sympathien dafür bekundet, dass er das Land vor dem »Bolschewismus gerettet« und es »erneuert« habe. Dem faschistischen Italien wurde das »Recht auf Expansion« zugebilligt und ihm wurde die Wahrnehmung einer »zivilisatorischen Mission« in Afrika bescheinigt. Ein interministerieller Ausschuss hielt im Juni 1935 fest, dass es »keine vitalen britischen Interessen« gebe, sich »einer italienischen Eroberung Äthiopiens zu widersetzen«. Im Rahmen der Vorbereitung des Überfalls beschäftigten London allen Ernstes andere Sorgen. Angesichts der beträchtlichen Kampfkraft der äthiopischen Armee befürchtete man, der Feldzug könnte die militärischen Potenzen Italiens überfordern, es könnte zu einem »erschöpfenden afrikanischen Abenteuer« kommen und dies gar zu einem Zusammenbruch des Faschismus führen. Als nach dem Beginn der Aggression wirksame Sanktionen des Völkerbundes gegen Italien ausblieben, wurde der britische Außenminister John Simon von dem Historiker Alfred L. Rowse gefragt, warum die Engländer nicht irgendeinen Zwischenfall arrangierten, zum Beispiel ein Schiff im Suezkanal versenkten, was die Verbindung zwischen Italien und seinen Armeen in Äthiopien unterbrechen würde. Simon antwortete: »Wir können das nicht tun, weil das Mussolinis Sturz bedeuten würde.«⁵ Es begann die Politik des »Appeasement«, der »Beschwichtigung«, welche die Öffentlichkeit über die Aggressionsabsichten Mussolinis hinwegtäuschen sollte.

Im Besitz der französischen »carte blanche« ging Mussolini unverzüglich an die konkrete militärische Planung des Überfalls. Im Februar begann die Verschiffung der Kolonialarmee nach den italienischen Kolonien Eritrea und Somalia. Ende Mai befanden sich bereits über 360.000 Soldaten in Ostafrika, die zu Beginn der Aggression auf 400.000 aufgestockt wurden. Paris und London versuchten daraufhin, Italien zu einem Kompromiss zu bewegen. Am 24. Juni bot der britische Minister für Völkerbundangelegenheiten, Anthony Eden, dem »Duce« in Rom eine Lösung der »äthiopischen Frage« durch den Völkerbund an. Mussolini lehnte das ab. Am 15. August schlugen Paris und London vor, gemeinsam mit Rom über Äthiopien ein Protektorat zu verhängen. Mussolini lehnte wiederum ab. Trotz der offensichtlichen italienischen Kriegsvorbereitung waren Laval und der neue britische Außenminister Samuel Hoare bei ihrer Zusammenkunft am 10. September nicht bereit, militärische Maßnahmen zur Sicherung der äthiopischen Unabhängigkeit zu vereinbaren. Aufschlussreich war, dass beide Chefdiplomaten sich bereits zu eventuell möglichen wirtschaftlichen Sanktionen des Völkerbundes gegen Italien dahingehend äußerten, dass bei deren Anwendung »Kriterien der Abstufung« zu beachten seien. Wie die späteren Völkerbundbeschlüsse zeigten, ging es darum, zu gewährleisten, dass Sanktionen nicht das militärische Potential Italiens beeinträchtigten.

Mussolini honorierte das in einem Interview mit der Londoner Morning Post vom 18. September, in dem er erneut feierlich versicherte, Italien habe nicht die Absicht, die Interessen Frankreichs und Großbritanniens in Ostafrika zu beeinträchtigen, und beteuerte, Italien werde alles Mögliche tun, um einen Konflikt zu vermeiden. Auch nach dem Überfall versuchten London und Paris, dem Aggressor durch Zugeständnisse einen »legalen« Teilerfolg zu sichern. Laval und Hoare unterbreiteten am 11. Dezember einen »Plan zur Lösung der Äthiopien-Frage«, der vorsah, Italien große äthiopische Gebiete von Ogaden und Danakil sowie von Teilen der Provinz Tigre, darunter Adua, insgesamt etwa die Hälfte des Landesterritoriums, zu überlassen. Äthiopien wurden dafür der Hafen Asab und ein schmaler Landzugang zu diesem hin versprochen. Kaiser Selassie aber lehnte ab, der Annexion des Landes auf Raten zuzustimmen. Und auch Mussolini wies diese »diplomatische Lösung« zurück. Internationale Proteste, die die Zugeständnisse und die Kompromissbereitschaft gegenüber dem italienischen Aggressor verurteilten, zwangen Laval und Hoare schließlich, den Plan zurückzuziehen. London opferte Hoare, der dimensionieren musste.

Wirkungslose Sanktionen

Am 2. Oktober ließ Mussolini die Maske fallen. Vom Balkon des Palazzo Venezia in Rom kündigte er in einer vom Radio übertragenen Rede den Beginn des Eroberungsfeldzuges für den nächsten Tag an. Am 3. Oktober überschritten italienische Truppen ohne Kriegserklärung die Grenze. Der von Paris und London beherrschte Völkerbund war 1931 beim Angriff Japans auf die chinesische Mandschurei untätig geblieben und hatte das mit der ungünstigen geographischen Lage begründet. Jetzt sein Mitgliedsland Äthiopien ebenso völlig im Stich zu lassen, hätte bedeutet, die eigene Existenz aufs Spiel zu setzen. So versuchte man in Genf, das Gesicht zu wahren, und verurteilte am 7. Oktober Italien als Aggressor, verhängte vier Tage darauf jedoch nur weitgehend wirkungslose wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen und überließ Äthiopien faktisch seinem Schicksal. Vom Embargo für sogenannte kriegswichtige Handelsgüter war das für den Einsatz der Luftwaffe und der Panzer entscheidende Erdöl ausgenommen, ferner Eisenerz und Kohle. Der britische Finanzminister Neville Chamberlain hatte in London Sanktionen zuvor als »Wahnsinn« bezeichnet. Auf militärische Maßnahmen, die die Völkerbundsatzung ebenfalls vorsah, wurde verzichtet, lediglich Waffenlieferungen wurden untersagt. Für die Resolutionen stimmten 51 Mitgliedstaaten, Österreich, Ungarn und Albanien stimmten dagegen. Sieben Mitgliedstaaten befolgten das Waffenembargo nicht, acht wendeten finanzielle Maßnahmen nicht an, zehn stellten den Warenexport nach Italien nicht ein, dreizehn bezogen weiterhin Importe aus Italien. Viele Völkerbundmitglieder gaben Italien heimlich zu verstehen, dass sie die Sanktionen nur formal anwenden würden. So konnte Italien problemlos Kriegsgerät und Rohstoffe aus Frankreich, Belgien und der Tschechoslowakei beziehen, ebenso aus dem befreundeten Österreich.

Für wirksame Sanktionen trat nur die UdSSR ein. Sie forderte, jegliche Zufuhr von Erdöl nach Italien und zu dem Kriegsschauplatz zu unterbinden und dazu auch die Durchfahrt durch den Suezkanal zu sperren. Der Völkerbund aber ignorierte die Anträge Moskaus, und Mussolini konnte ungehindert ans Werk gehen. Obwohl Italien ein wichtiger Absatzmarkt für sowjetisches Erdöl war, stellte die UdSSR dessen Export ein und beteiligte sich in vollem Umfang an den verhängten Sanktionen. Den anhaltenden barbarischen Kolonialterror ignorierend, hob die internationale Organisation die Sanktionen bereits am 16. Juli 1936 wieder auf.

Es handelte sich um keinen Kolonialkrieg alten Stils. Der Überfall erfolgte auf einen für afrikanische Verhältnisse weit »entwickelten« Staat, der 1923 Mitglied des Völkerbundes geworden war. In Addis Abeba herrschte an der Spitze einer konstitutionellen, ihren Grundstrukturen nach feudalen Monarchie Kaiser Haile Selassie I., der den Titel Negus Negesti, König der Könige, trug. Er hatte eine Modernisierung der Verwaltung und des Bildungswesens eingeleitet, angesichts der von Italien ausgehenden Expansionsgefahr auch die Streitkräfte modernisiert und europäische Offiziere als Instrukteure angeworben. Die Armee verfügte nach der Mobilisierung über eine Stärke von 550.000 Soldaten.

Die Kolonialarmee fiel mit 400.000 Mann in zwei Gruppen in Äthiopien ein. Das Gros, das aus dem Raum Agordat im Norden Eritreas auf der alten Kaiserstraße in Richtung Addis Abeba vorstieß, kommandierte der Befehlshaber der Armee, General Emilio De Bono, selbst. Im Süden stieß eine Gruppe unter dem Befehl von General Rodolfo Graziani aus dem Raum Belet Uen von Somalia aus über Gorrahei zur Eisenbahnlinie Dschibuti–Addis Abeba vor. Ein Korps stand im Süden Eritreas in Reserve. Das strategische Ziel zu erreichen, erforderte, spätestens bis Mai in der Hauptstadt anzukommen, da danach durch die einsetzende Regenzeit das Gelände nicht mehr zu passieren war.

Selassie hatte seine Armee von den Grenzen abgezogen, um Provokationen zu entgehen. So stießen die Kolonialtruppen zunächst rasch vor und besetzten bereits am 6. Oktober Adua und am 15. Oktober die heilige Stadt Axum. Die Äthiopier stellten sich erst im Landesinneren zur Schlacht. Sie setzten auf die lebendig gebliebenen Traditionen des erfolgreichen Widerstandes gegen die koloniale Eroberung und glaubten, den 1896 bei Adua errungenen Sieg über die Italiener wiederholen zu können.⁶

Gaskrieg

Trotz der großen Überlegenheit an Flugzeugen, schwerer Artillerie, Panzern und Fahrzeugen sowie massiver Luftangriffe auf Städte und Dörfer brachte die äthiopische Armee die Offensive zum Stehen und ging sogar zu Gegenangriffen über. Am 16. November löste Mussolini De Bono ab und übergab General Pietro Badoglio das Kommando. Gleichzeitig befahl er, Giftgas einzusetzen. Zwischen Dezember 1935 und April 1936 wurden über den äthiopischen Stellungen an die 2.000 Gasbomben mit Arsen, Phosgen und Yperit abgeworfen, insgesamt rund 350 Tonnen. Giftgasangriffe fanden auch dann noch statt, als die äthiopische Armee zu keinem wirksamen Widerstand mehr in der Lage war und sich bereits auf dem Rückzug befand.

Die Folgen waren verheerend. Da die Äthiopier weder über Schutzmaßnahmen verfügten noch Behandlungsmethoden kannten, führten auch nichttödliche Dosierungen in der Regel zum Tod. Nach Angaben aus Addis Abeba fanden während des Feldzuges auf äthiopischer Seite etwa 275.000 Menschen den Tod.⁷ Italien brach mit dem Giftgaseinsatz das 1925 unterzeichnete internationale Abkommen über den Verzicht auf den Einsatz chemischer Waffen. Um zu verhindern, dass Berichte darüber an die Öffentlichkeit kamen, ordnete Mussolini persönlich an, gefangengenommene Europäer, die in der äthiopischen Armee kämpften, zu erschießen.

Mittels des Giftgaseinsatzes gelang der Kolonialarmee der Durchbruch. Am Tanasee brach sie Anfang April den letzten Widerstand. Am 5. Mai 1936 zogen die italienischen Truppen in Addis Abeba ein. Am 1. Juni schloss Mussolini Äthiopien mit Eritrea und Italienisch-Somaliland zur Kolonie Italienisch-Ostafrika zusammen. Für das italienische Kapital waren reiche Rohstoffquellen erobert worden: Eisen, Kupfer, Mangan, Schwefel, Nickel, Platin und Gold. Während für unzählige Äthiopier ein Hungerdasein begann, transportierten Frachter das Getreide des Landes nach Italien. Einige zehntausend arbeitslose Italiener fanden für einige Jahre Arbeit in Äthiopien. Der italienische König Vittorio Emanuele III. setzte sich die äthiopische Kaiserkrone auf, und Papst Pius XI. zwang den Äthiopiern auf den Trümmern ihrer koptischen Kirche eine ihnen fremde Religion auf.

Es gelang indessen nicht, Äthiopien völlig zu unterwerfen. Das Kolonialregime beherrschte nur die großen Städte und etwa ein Drittel des Landes. Die verschiedenen Stämme, aber auch selbständige Partisanenabteilungen, darunter frühere Soldaten und Offiziere, kontrollierten die schwer zugänglichen Bergregionen und Wüstengebiete. Um den Widerstand zu zerschlagen, führten Abteilungen der Schwarzhemden »Strafexpeditionen« durch. Der damals in Addis Abeba stationierte Korrespondent des Mailänder Corriere della Sera, Ciro Poggiali, schilderte 1971 im Rückblick: »Alle Zivilisten, die sich in Addis Abeba befanden, hatten auf Grund der fehlenden militärischen oder polizeilichen Organisation die Aufgabe der Rache übernommen, die in echter faschistischer SA-Manier blitzschnell ausgeführt wurde. Mit Knüppeln und Eisenstangen bewaffnet liefen sie umher und erschlugen die Einheimischen, die sich noch auf der Straße befanden. (…) Nach kurzer Zeit waren die Straßen um die Hütten mit Toten übersät. Ich sah einen Busfahrer, der, nachdem er einen alten Neger mit einem Hammerschlag niedergemacht hatte, ihm den Kopf mit einem Bajonett durchbohrte. Man muss nicht erwähnen, dass das Gemetzel sich gegen unwissende und unschuldige Menschen richtete.«⁸

»Terror und Vernichtung«

Nach der Einnahme der Hauptstadt hatte Mussolini angewiesen, jeden bewaffneten Äthiopier sofort zu erschießen und ebenso mit gefangengenommenen Rebellen zu verfahren. Wörtlich befahl er eine »Politik des Terrors und der Vernichtung«. Allein von den Angehörigen der Carabinieri wurden bis Juni 2.500 Einheimische erschossen. Auch setzte man weiterhin Giftgas ein. Nach einem gegen ihn erfolgten Attentat befahl Generalgouverneur Graziani am 19. Februar 1937 ein Massaker, dem nach äthiopischen Angaben allein in der Hauptstadt 30.000 Menschen zum Opfer fielen. Etwa 1.000 Häuser wurden niedergebrannt. Graziani ordnete an, die äthiopische Intelligenz als potentiellen Oppositionsherd zu liquidieren. Unzählige christlich-koptische Geistliche und alle Kadetten der Militärakademie von Addis Abeba wurden daraufhin umgebracht. Nur auf den Verdacht hin, sie könnten an dem Attentat beteiligt gewesen sein, ließ er im Mai 1937 nahezu 300 Ordensbrüder des Klosters Debre Libanos erschießen. Unzählige Äthiopier sperrte das Kolonialregime zudem in Konzentrationslager, wo viele elendiglich zugrunde gingen. Insgesamt kamen unter der faschistischen Herrschaft etwa 750.000 Äthiopier ums Leben.

In Äthiopien wurde unverzüglich die römische Rassenideologie verwirklicht. Die Italiener sollten auf ihre Rolle als künftige Herren nicht nur des bestehenden Italienisch-Ostafrika, sondern als Eroberer des ganzen Kontinents vorbereitet werden. Der frühere Gouverneur von Eritrea, Maurizio Rava, schrieb in der Zeitschrift Cinema (Nr. 1/1936): »In einem so ausgedehnten Imperium wie das, was uns für immer gehören wird, ist die Gefahr für eine Verunreinigung unserer Rasse natürlich sehr viel größer als in den spärlichen Kolonien, die wir bis heute besessen haben.« Mussolinis Schwiegersohn Graf Ciano, zu dieser Zeit Propagandaminister, betonte die »klare Trennung« der Rassen und keinerlei Annäherung »der italienischen Rasse an die schwarze Rasse«, um die »Reinheit« der italienischen absolut zu wahren. Hier ging es den Rassenideologen besonders darum, intime Beziehungen zu einheimischen Frauen zu unterbinden. Der Herausgeber der Zeitung des Großkapitals Il Resto del Carlino, Giorgio Maria Sangiorgi, äußerte zum Thema des »Mischlings«, anthropologische Forschungen hätten ergeben, dass er nicht nur die Eigenschaften der »minderwertigen schwarzen Rasse« in sich trage, sondern diese noch potenziere. Auch in sozialer Hinsicht hielt dieser Rassist den »Mischling« für eine Gefahr. Da er zwischen zwei Kulturen lebe, ohne in einer von beiden wirklich heimisch zu sein, wecke das in ihm den Drang zu Aufruhr und Korruption, was die Kolonialherrschaft gefährde. Um einer »Rassenmischung« vorzubeugen, forderte der Autor, Apartheidmaßnahmen durchzusetzen: »So wollen wir zum Beispiel, dass es in den öffentlichen Ämtern Schalter für Weiße und für Schwarze gibt, so dass ein Weißer niemals unter dem eingeborenen Haufen in der Schlange stehen und warten muss, bis er an die Reihe kommt, und dass an jedem öffentlichen Ort immer zuerst dem Weißen der Vortritt zu geben ist.«⁹

Mit den rassistischen Instruktionen wurde der Boden bereitet für das im Juli 1938 verkündete »Rassenmanifest«, mit dem Mussolini grundsätzlich und wesentlich die faschistischen Rassengesetze Hitlerdeutschlands übernahm. »Die gerade nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vertretene Hypothese, die italienischen Rassengesetze seien auf Druck des deutschen Bündnispartners eingeführt worden, entbehrt jeglicher Grundlage«, hielt die Historikerin Gabriele Schneider fest.¹⁰

Anmerkungen:

1 Palmiro Togliatti: Die Vorbereitung des imperialistischen Krieges und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale. In: Wilhelm Pieck, Georgi Dimitroff, Palmiro Togliatti: Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunisten im Kampf für die Volksfront gegen Krieg und Faschismus. Berlin/DDR 1960, S. 215

2 Eric Hobsbawm: Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert. München 2003, S. 144

3 Togliatti (Anm. 1), S. 215

4 Im Juli 1935 gingen über anonyme Kanäle nach Addis Abeba 10.000 Mausergewehre und -pistolen, zehn Millionen Patronen, Handgranaten sowie Medikamente, ferner 30 Panzerabwehrkanonen mit Munition. In der Schweiz kaufte das Heereswaffenamt 36 Örli-Kanonen und ließ sie nach Äthiopien verschicken. Später folgten noch kleinere Lieferungen. Vgl. Manfred Funke: Sanktionen und Kanonen. Hitler, Mussolini und der internationale Abessinienkonflikt. Düsseldorf 1970, S. 43 ff.

5 Alfred L. Rowse: All Souls and Appeasement. London 1961, S. 26

6 Im März 1896 hatte Italien bei der versuchten Eroberung Äthiopiens eine vernichtende Niederlage erlitten. Von 18.000 Mann entkamen nur 2.500 dem Tod. Die Verluste der 60.000 Krieger zählenden vereinten Stämme betrugen 10.000 Mann. Vgl. Heinrich Loth: Geschichte Afrikas. Afrika unter imperialistischer Kolonialherrschaft und die Formierung der antikolonialen Kräfte 1884–1945. Berlin/DDR 1976, S. 24 f.

7 Vgl. Gabriele Schneider: Mussolini in Afrika. Die faschistische Rassenpolitik in den italienischen Kolonien 1936–1941. Köln 2000, S. 145

8 Giro Poggiali: Gli Appunti segreti dell’inviato del Corriere della Sera. Mailand 1971

9 Giorgio Maria Sangiorgi: L´Impero italiano nell’Africa Orientale. Bologna 1936, S. 193

10 Schneider (Anm. 7), S. 76

Gerhard Feldbauer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 8. Juli 2025 über den neuen Papst Leo XIV.: »Einheitspapst«

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Cora B. aus Köln (4. Oktober 2025 um 18:22 Uhr)
    Danke für den wirklich informativen Artikel! Ein Ergänzung – der Wikipedia-Artikel zum Thema »Abessinienkrieg« lässt die ganze schändliche »Appeasement«-Politik besonders von Frankreich und Großbritannien aus, erwähnt aber folgenden, nicht unwichtigen Umstand: »Nach 1945 bemühte sich Äthiopien um ein an die Nürnberger und Tokioter Prozesse angelehntes internationales Tribunal für italienische Kriegsverbrecher, scheiterte damit jedoch nicht nur am Widerstand Italiens, sondern insbesondere an dem der westlichen Alliierten. Somit wurde keiner der italienischen Täter für die in Äthiopien begangenen Kriegsverbrechen juristisch belangt. Den systematischen Einsatz von Giftgas gestand die italienische Regierung erst 1996 ein, und 1997 bat Staatspräsident Oscar Luigi Scalfaro in Äthiopien um Entschuldigung für das von 1935 bis 1941 verursachte Unrecht.« (https://de.wikipedia.org/wiki/Abessinienkrieg)

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