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Aus: Ausgabe vom 27.09.2025, Seite 6 (Beilage) / Feuilleton
ABC-Waffen

Im Schatten der Schilder an Straßen

Smartphones, Jordanien, die Wüste (durch und drüber)
Von Konstantin Arnold
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Als Wüsten werden die vegetationsärmsten Gebiete der Erde bezeichnet. Es gibt Sandwüsten, Eiswüsten, völlig vegetationsfreie Vollwüsten, die Gipfel der Hochgebirge, Stadtwüsten, die durch Trockenheit, Dummheit, das Fehlen von Wärme oder Wasser entstanden sind und entstehen. Weiterhin lassen sich Wüsten noch nach kontinentalen Binnenwüsten, Regenschattenwüsten und durch den Menschen verwüstete Wüsten unterteilen. Ein paar Beispiele: die Antarktis, die Sahara, die Gobi und Amman, wenn man es aus dem dreizehnten Stock des Four Seasons überblickt. Die Vegetationsrate beträgt weniger als zehn Prozent, und die Verdunstungsrate ist so hoch, dass der Regen sich verflüchtigt, bevor er zu Boden fällt. Ironischerweise lagern unter den meisten Wüsten Wasserspeicher von gigantischem Ausmaß. Man trifft höchstens mal auf Agaven. Eine schöne Pflanze, die einmal blüht und dann stirbt. Ansonsten passiert nichts. Die Sinne sind erst unterfordert und dann auf allen Kanälen bedient, sobald sie sich umgestellt haben. Die Luft formt den Sand, wie das Wasser den Fels. Man denkt. Mehr passiert eigentlich nicht, obwohl man hofft, dass sich irgendwo was bewegt und ein Geräusch macht. Wüsten scheinen alle Töne zu verschlingen, kaum was hallt wieder. Wie in einem Tonstudio geht sich das aus. Man ist auf sich und das Sein beschränkt. Denkt kaum oder nur kurz, fühlt aber keine Problematik, weil Innen gleich Außen ist. Rauchen möchte man aber trotzdem. Weit und breit nur Steine, Sand und Himmel. Man spürt das Gewicht der Zeit, das auf den Dingen liegt. Der Wind kennt kaum Grenzen. Die Stille steht einfach in Form von kleinen Bergen da.

Die meisten Dinge, die es auf der Welt gibt, ändern sich irgendwann. Was Meere waren, sind nun Wüsten und umgekehrt. Bayern bleibt auch nicht immer Meister. Wir nehmen zu gerne für uns in Anspruch, dass alles so bleibt, wie es ist, auch wenn es die meiste Zeit vor uns nicht so gewesen war. Immer größere Teile der Erde werden zu Wüsten. Früher konnten Nomaden große Teile der Sahelzone nutzen. Auch in Südamerika, Asien, Südspanien und Sizilien versteppen die Landstriche. Die Ur­sachen dafür sind weitgehend menschengemacht. Ein Großteil der Weltbevölkerung konzentriert sich in Städten. In China ziehen Millionen Bauern in die Megametropolen. Das umliegende Land verfällt und versteppt. Beijing wird von der Wüste Gobi bedroht, die sich jedes Jahr zwei Kilometer weiter an die Stadt heranschiebt.

Also macht man die Wüsten bewohnbar. Man passt die Verhältnisse seinen Erwartungen an, anstatt die Erwartungen den Verhältnissen. Eine Verwertungslogik, nach der gewirtschaftet, gelebt und gestorben wird. Klimaanlagen, Dauerkommunikation, Welthandel. Orte wie der Everest, das All und Unterwasser sind passé, weil selbst da heute Internet hinkommt.

Wüstenbewohner schienen früher den materiellen Segnungen der Zivilisation eher feindselig gegenüberzustehen. Wohlgesinnten, die versuchten, die Dürftigkeit zu bereichern, begegneten sie mit Hohngelächter oder Gleichgültigkeit. Siehe T. E. Lawrence, der in seinen »Sieben Säulen der Weisheit« stöhnt, wie schwer es ist, eine widerstrebende Menschheit die Bahn aufwärts zu treiben.

Viele sagen deshalb, es gibt heute gar keine Wüsten mehr, nur noch das Bedürfnis danach ist spürbar. Nach Leere und Nichts. Einkaufszentren können auch Wüsten sein. Descartes wählte für seine »Mediationen« Amsterdam, den geistlosesten Ort seiner Zeit. Heilige gehen in die Wüste, wenn sie die Menschen zu sehr lieben. Zarathustras, Eremiten, Aussteiger aller Art haben sich in Wüsten zurück­gezogen, um eine höhere geistig Ebene zu erreichen. Man setzt sich einem Mangel aus, der wohl zur Vervollkommnung beiträgt, indem man sich geistig und körperlich diszipliniert. Die Antworten aus der Wüste sind dieselben, die einem auch Meere geben, der Himmel oder das All. Gleichgültigkeit, Anmut, ein fairer Friede. Einsamkeit, als eine Antwort, für die man dann, auf dem Grund des Seins, gar keine Frage mehr findet. Denn wenn eigentlich alles nichts ist, muss das Nichts alles sein. Richtige Wüsten können einen verschlingen. Man ertrinkt im windbewegten Sand, bevor man verdurstet, kommt aber durch die ständigen Reisewarnungen der auswärtigen Ämter sowieso kaum hin.

Jesus hat sich in die Wüste zurückgezogen, um sich zu sammeln und Inspiration zu schöpfen. Mohammed dagegen war Städter. Muslime verstanden die Wüste am Anfang ihrer Geschichte als Ort, aus dem die Heimsuchung kommt. Ein Ort des Todes, der Gefahr, aber auch der Begegnung mit Gott. Erst die Sufi-Philosophen änderten das unter dem Einfluss christlicher Mystiker und einem Bedarf an Metallen und Steinen für ihre Städte und Gräber. Siehe auch Gilgamesch-Epos. Die Zivilisation beginnt in Mesopotamien, nicht in Ägypten, nicht in Griechenland und auch nicht in New York.

Ein früher Hauch, der jenseits des Euphrat entstand und viele Tage und Nächte über den Sand wandelte bis zum ersten menschlichen Hindernis, trieb die Menschen in die Wüste. Man erfand Tage, Stunden, Minuten. Sogar Gestirne. Die Babylonier wussten, wie viele es gibt, und sie wussten, dass immer noch welche dazukommen, die der Vorstellungskraft. Sie erzählten Geschichten nicht, um sich darin zu verlieren, sondern im besten Fall, um darin umzukommen. In unendlicher Weite ist das Erzählen die einzige Mitte. Diese Mitte ist beseelt von dem, was uns eint: Wille, Wunsch und Sein. Erzählt wurde das Mögliche, nicht das Wirkliche. Möglich war alles, was erzählt worden ist.

Abraham verlässt Mesopotamien, zieht über den fruchtbaren Halbmond bis Kanaan und weiter zum Nil. Das Leben bietet ihm Luft und Wind und Licht und Hoffen auf Weiterleben. So nimmt es der Gottesfürchtige an. Gott ist das gebräuchlichste Wort. Ich bin zwar nicht religiös, aber wir haben viel an Beredsamkeit eingebüßt, seit wir das Wort nur als zartes Überbleibsel und Symbol betrachten.

Etwa 1.900 vor Christus erscheint die altägyptische Erzählung von Sinuhe, auf die sich noch heute viele Beduinen beziehen. Zum ersten Mal kam der Gedanke auf, dass die Wüste auch Freiheit ermöglicht. Sinuhe, ein Hofbeamter am Hof in Ägypten, flieht nach dem Tod des Pharaos in die Wüste, weil er fürchtet, dass der Nachfolger ihn umbringen wird. Er durch­quert die ­Wüs­te in Richtung Kanaan, Nomaden retten ihm das ­Leben. Die Rettung durch Wüstennomaden ist seitdem ein ­Motiv, das immer wieder in der Literatur auftaucht, etwa bei Antoine de Saint-Exupéry.

Wir in Europa haben viele Vorstellungen, die mit der Wüste verknüpft sind, auf den Wald übertragen. Als im Mittelalter die Pest grassierte, flüchteten Menschen in den Wald, eine Urlandschaft, in der man sich dann wie der erste oder der letzte Mensch auf der Welt vorkommen kann. Ansonsten gibt es in Europa nur eine Region, die an eine Wüste rankommt, das Spanische Hochland, besser bekannt als Meseta. Ein riesengroßes Nichts, ein karges Hochland, durch das die Spanier fahren und nur anhalten, um zu scheißen. Man sagt, die Meseta wäre sogar noch negativer als die Wüste, denn die Wüste verspräche nichts, aber die Meseta wäre das Land der gebrochenen Versprechen. Hügel wie aufgeschüttete Grabplatten. Nichts, nur das Gewicht des Himmels, das auf dem Staub lastet und den Steinen, die noch nicht Staub geworden sind. 200.000 Quadratkilometer Staub.

Auf spanisch sagt man reichlich derb »echar un polvo« – »Staub aufwerfen« – und meint »vögeln«, »flachlegen«. Die Welt ist Staub. Vélazquez glaubte an Staub. Er macht ihn zum Hintergrund seiner besten Bilder. Staub ist seine Sprache. Und dass der Himmel auf den Menschen lastet, unsichtbar, wie ihr Glaube. Die Menschen in der Wüste glauben trotzdem lieber an das Nichts. Eine Wüstenlandschaft macht eben skeptisch, weil man mehr spürt, als man sieht.

Wer lange genug in der Wüste lebt, wird unweigerlich auf sich oder seinen Gott zurückgeworfen oder verrückt, was ein bisschen was von beidem ist. Die Beduinen vermochten nicht, Gott in sich zu suchen. Sie konnten nicht fassen, dass Gott irgend etwas war oder nicht war. Oder wie die Sufis sagen: Viele denken, Gott ist oben im Himmel, aber er blickt zu uns von innen. Das heißt, der Sufismus geht davon aus, dass eine Vollkommenheit in uns pulsiert, die wir zu entdecken haben wie einen Schatz. Und dieses Entdecken geht nicht fern von der Welt, sondern im täglichen Geschehen. Als einzige Zuflucht auf einen Rhythmus des Seins bleibt, diese Leere mit Spiritualität auszufüllen. Frei nach dem Motto: Die Wahrheit der Welt versteht nur, wer seinen Verstand verliert.

Es ist kein Zufall, dass die großen Religionen in Wüstenregionen entstanden sind, weil dort die Notwendigkeit für Gesetze am größten gewesen ist. Dazu Durst und Hitze und eine Landschaft, in der Denken verrückt macht. Man wandert Stunden, Tage, Jahre. Auf einem Kamel geradeaus. Hört nur Wind in den Ohren und Gedanken und bildet sich sonstwas ein. Die Religion hat das perfektioniert, eine Gebrauchsanweisung geben für nichts, außer Gedanken und Hitze und Nichts. Wind und Zeit, noch mehr Steine und Staub und Steine, die noch nicht Staub geworden sind. Vielleicht sind Moses und die Propheten nur durstige Halluzinierende in der Wüste gewesen, so wie Reinhold Messner, als er vom Nanga Parbat stieg, halb tot, sich von oben sehend, nur dass der nicht so ein großes Ding draus machte und gleich eine Weltreligion erfand.

Nachdem die Israeliten am Berg Sinai von Gott die Zehn Gebote em­pfangen haben, müssen sie erst einmal lernen, nach ihnen zu leben. Dazu müssen sie 40 Jahre in die Wüste. Erst dann geht’s ab ins Gelobte Land. Moses ist laut Bibel am Ende 120. Man muss mit seinem Aberglauben inmitten dieser Endlosigkeit und Leere umgehen, sonst wird man verrückt. Sieht Götter in Büschen, die brennen, glaubt, dass man das Meer teilen kann, weil man Ebbe und Flut noch nicht kennt, oder Fischer sieht, die auf Korallenriffen im Roten Meer übers Wasser wandeln. Blinde kann man auch heilen, falls sie (wie ich einmal) mit offenen Augen durchs Tote Meer getaucht sind.

Der Gutgläubige nimmt sein Schicksal aber an wie ein angebundenes Pferd. Sitzt prophetenhaft im Schatten der Schilder an Wüstenstraßen. Wartet, weil das das Warten erleichtert. Die seelische Tuchfühlung. Ein deprimierender passiver Seelenzustand, dem aufbauende Möglichkeiten zugeschrieben werden. In schā›a ›llāh oder Besiyata Dishmaya! Die Legitimation der Unfähigkeit durch Melancholie, die chronische Zivilisationskrankheit. Dazu die Durchsichtigkeit des Lichts, die Sehnsucht der Dichter und die Resignation der Armen unter Zelten im Sand. Die Höhe der Dörfer. Alles, was das Leben steigert, vermehrt seine Sinnlosigkeit vielleicht nur. Vielleicht aber auch nicht. Was bleibt uns dann anderes, als es voll auszuschöpfen? Die inneren Tiefen und äußeren Höhen, um zumindest den Anschein eines Schicksals zu erwecken? Haus, Frauen, Kinder zu haben, nur nicht schon mit zwanzig, weil dann gibt’s keine Trümpfe mehr, nur noch Warten, von Haus, Frau und Kind umgeben, auf das Ende und die ganz große Stille. In Wüstenregionen trifft man die ältesten Zwanzigjährigen der Welt. Sie rauchen mit zehn und fahren mit elf. Ihr Leben erscheint mir sonderbar, aber vielleicht nur, weil der Wein fehlt und Sex. Es ist eine bittere Weisheit ohne Genießen. Weisheit ergibt sich nicht von allein, sondern in Tafelrunden. Es wäre sonst einfach nur die Sonne, unter der man sitzt, isst, trinkt, scheißt, wartet, fünfmal betet pro Tag, reglos wie eine Meeresfrucht, da diese Weisheit dann auch die des Todes ist. Man kann keinen Ehrgeiz haben ohne Sehnsucht, die sich der unendlichen Größe des Alls widersetzt. Teilnimmt und glaubt, dass da mehr ist als das Dahinfließen der Tage unter der Sonne, bis man mal einen Menschen trifft.

Er kommt aus der Ferne, hat dunkle Augen, die mit Kohle nachgezogen wurden, und sieht aus, als wolle er zum Fasching nach Zürich. Seine Augen sind magnetisch, und der Blick geht tief. Er redet langsam und so, wie man sehr heißen Tee trinkt. Er sagt, das Leben der Wüste ist nicht mehr romantisch. Früher hätten sie viel mehr Schafe und Ziegen gehabt. Mit dem Licht gelebt und geschlafen, wann und mit wem sie wollten. Im Winter hätten sie ums Feuer gesessen und viel Phantasie gehabt. Er behaupte nicht, die Wüste sei damals nur besser gewesen, aber weniger befahren, nicht so zugänglich, poetisch und gefährlicher, wohl aber jünger und nicht kurz vorm Überlaufen. Die Telefone hätten alles zerstört.

Die meisten haben die Vorstellung, in Begleitung von Beduinen durch die Wüste zu ziehen und in der Dämmerung Tee zu trinken und dann gut gegartes Lammfleisch in schwarzen Ziegenhaarzelten unter den Sternen zu essen. Nur hält diese Vorstellung oft nicht lange an, weil alle Menschen die haben. Es gibt richtige Sandstraßen, und unser letzter Beduine hatte gar keinen Bock. Wir kauften ihm erst mal zwei Cola und eine Schachtel Kippen ab, und nur langsam schaltete er sich an. Wir fuhren in einem alten Jeep, und er zeigte uns eine Schlucht mit tausend Menschen und eine Baracke, in der T. E. Lawrence mal eine Rast machte mit tausend Menschen, und nach der Sanddüne, wo sie wohl »Lawrence von Arabien« gedreht hatten, hatte ich genug. Ich fragte, ob wir nicht mal irgendwo hinfahren können, wo nichts und niemand ist. Der Beduine sagte, ja, aber da wäre nichts, nur Wüste. Na, deswegen sind wir ja hier, antwortete ich. Wir kämen aus Amman und müssten nicht noch mehr Menschen sehen. Wir fuhren eine ganze Weile. Man saß seitlich hinten drauf, was die Frisur zerstörte. Manchmal blieb der Jeep stehen, und wir mussten ihn anschieben. Wenn er fuhr, sah man sich um, atmete ein, war glücklich, und wenn er stehenblieb, kam man sich wie der letzte Mensch vor. Man sah sich auch um, atmete auch, aber heftiger. Wir fuhren eine ganze Weile über ein Plateau und dann einen Berg rauf und fanden eine schöne Stelle, von der aus man das ganze Plateau überblicken konnte. Der Beduine breitete einen Teppich aus und kochte Tee, er verschmolz mit dieser Landschaft. Wir hatten den ganzen Sonnenuntergang für uns. Wie das Ende der Welt sah der aus. Der Beduine sagte, der Sonnenaufgang sieht dagegen aus wie ihr Beginn. Nachdem die Sonne weg war, begann der Beduine zu erzählen und zeigte uns Fotos auf seinem Telefon. Er beim Töten von Schafen, er als Neugeborenes mit Schlangengift eingeschmiert. Sie legen die Schlange dafür ins Feuer, bis ein ganz bestimmtes Öl austritt, mit dem man die Wüstenbabys einschmiert, um sie zu impfen. Sie kochen auch noch richtig unter der Erde, im Sand, Zarb nannte er das. Manchmal, sagte er, fährt er bis hier raus und schläft nur mit seinen Kamelen. Nicht so, wir sollen nicht lachen. Aber es passiert schon, dass Menschen von Kamelen totgefickt werden. Manchmal mache er sich daraus einen Spaß, wenn er mit Freunden hier draußen ist. Die Kamele denken, dass die kleinen flachen Zelte, in denen die Beduinen schlafen, Kamele sind. Er schleicht sich dann im Morgengrauen an und wirft sich genauso drauf, um seine Freunde zu erschrecken. Ich erzählte ihm von Petra, aber er sagte, dass die in Petra gar keine Beduinen sind, »nur Zigeuner«. Seine Familie stamme von Sinuhe. Die in Petra kommen aus den Bergen der Kabylei, dem großen Süden, den unendlichen Weiten der Wüste, sogar vom Meer, aus Städten mit Namen wie Tamanrasset oder Djanet oder noch weiter aus Mali. Ich sagte, mag sein, aber sie waren nett und wollten uns nichts.

In der Ferne über den Bergen, wo die Sonne gerade noch auf die Erde gefallen war, glühte noch ein letztes bisschen Licht. Es sah aus, als könnte man einmal pusten und so die Wüste entfachen. Irgendwann war es zu dunkel, um daran noch zu denken, und der Gedanke an Skorpione und Schlangen und Stille war zu unerträglich. Es war alles schwarz, nur das Gesicht des Beduinen leuchtete im Schein seines Smartphones. Meine Augen brannten, und meine Haut war trocken. Wir hoben all die Zigaretten auf, die wir woanders weggeworfen hatten, und machten uns auf den Weg. Es war schwarz und still. Man hörte den Wind in den Ohren, die Flügel eines Vogels schlagen, die Nackenhaare am Kragen streifen, das Atmen eines Menschen, den man liebt. Irgendwann hörte man auch Musik, wenn man sich den anderen Camps näherte. Zum Essen saßen wir mit Brasilianern und Schweizern zusammen, eine Deutsche war auch dabei, tat aber so, als käme sie von woanders. Diese typischen Leute, die sagen, dass sie irgendwo geboren wurden, aber immer schon ganz woanders gewesen sind, so wie ich. Die Atmosphäre war ein bisschen wie Ferienlager, Surfcamp und CVJM. Die Brasilianer sprachen über Brasilien und die Schweizer gar nicht, und ich ging raus und setzte mich zu den Beduinen, die alle am Telefon saßen. Ein großer Dicker war dabei. Wir machten ein paar Witze, und der große Dicke sagte, dass er viel größer und dicker sei als ich und mich mit dem kleinen Finger beim Armdrücken weghauen würde. Ich kam mir zu dieser Zeit sehr klein und schwach vor und hatte Komplexe, was meine Körpergröße betrifft, weil ich seit Wochen keinen Sport gemacht hatte. Manchmal fragte ich deshalb sogar meine Freundin. Fürchterlich peinlich, jeder Mann, der hier an sich halten kann, ist attraktiver. Ich konnte eine Niederlage also nicht verkraften, und der große Dicke war wirklich sehr dick und groß. Außerdem waren diese Wüstenjungs zäh und mit Schlangengift eingerieben. Ich ging zurück ins Zelt, setzte mich zwischen die Brasilianer, bis ich das Bossanovagequatsche nicht mehr ertragen konnte. Ich ging wieder raus zu dem großen Dicken und sagte, na gut, okay, komm, dann machen wir’s eben. Er lag da am Feuer wie ein Wal im Sand und meinte nur, dass er jetzt zu viel gegessen hätte. Erleichtert ging ich ein Stück weg und stand unter den Sternen. Das war also die Wüste. Ein paar Camps in der Ferne. Toilettenhäuschen. Ein großer, vollgefressener Beduine am Smartphone, ein paar Brasilianer drin, die bestimmt noch tanzen, und Kamele, denen man die Beine zusammengebunden hat, damit sie nicht zurück nach Saudi-Arabien finden. Keine Einsamkeit. Kein Verlieren.

Konstantin Arnold, Jahrgang 1990, ist freier ­Autor und lebt in Lissabon. Er schreibt Reportagen für Tageszeitungen und Magazine, um sich freitags gute Oliven und portugiesischen Rotwein leisten zu können. 2020 veröffentlichte er seinen Debütroman »Libertin. Briefe aus Lissabon« (Proof-Verlag). Zuletzt erschien von ihm an dieser Stelle in der Ausgabe vom 7./8. Dezember 2024 die Erzählung »Keine Ausblicke, Rom«

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