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Aus: Ausgabe vom 27.09.2025, Seite 10 / Feuilleton
Wiesn 2025

Grabscher und Gelage

Je mehr der Kommerz die Tradition sticht, desto irrer die Szenerie: Die Hautevolee feiert das Oktoberfest bei Bierpreis- und Kreislaufkollapsrekorden
Von Niki Uhlmann
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Schneller laufen – schneller saufen (München, 20.9.2025)

Rückwärts zählen, das klappt noch: »Zehn, neun, acht …«, bebt die Masse erwartungsvoll. Dies zu ändern, sticht Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) im Schottenhamel das erste Bierfass gekonnt mit zwei Schlägen an und verkündet: »O’zapft is! Auf eine friedliche Wiesn!« Die erste Maß zimmert sich natürlich Landesfürst Markus Söder (CSU) nei: »Sauguad!« Seine Lederhose sitze »viel besser als letztes Jahr«, verrät er Bild. Die Wiesn sei »die beste Form, gegen die Krisen der Welt anzukämpfen«. Seine Empfehlung: »Lebensfreude tanken«. Das Gelage ist eröffnet.

Alle waren vergangenes Wochenende da. Immerhin ist das Oktoberfest das größte Volksfest auf diesem trunkenen Planeten. Für jeden hat die deutsche Kultur etwas übrig: vom aufreizenden Dirndl bis zum frivolen Hitlergruß. »Beim Oktoberfest zeigt sich das Herz von Deutschland«, wusste Model Anna Ermakova, die gekommen war, um gesehen zu werden. Angelockt hatte die Sause auch den kanadischen Rapper Drake. In der Käfer-Schänke wippte er zum Schlager, ließ sich womöglich für seine nächste Platte inspirieren. Lange Gesichter machten allenfalls die Personenschützer. Die mussten nüchtern bleiben – und ihre besoffenen Schützlinge ertragen.

Mit lästiger Politik muss man sich auf dem Oktoberfest nicht herumschlagen. Zum guten Ton gehört laut BR, dass die Politprominenz sich blicken lässt und dabei in angemessenes Schweigen hüllt. Das sei Kanzler Friedrich Merz (CDU), Vize Lars Klingbeil und Arbeitsministerin Bärbel Bas (beide SPD) gelungen. Mit einem weiß-blau umrandeten Lebkuchenherz, auf dem das Koalitionsmotto »Verantwortung für Deutschland« in Zuckerlettern prangte, hätten sie dennoch ein Zeichen der Einigkeit gesetzt. Klingbeil sah man gegen Abend am Tisch von Heidi Klum, wo er sich mit beiden Händen an seine x-te Maß klammerte. Wen noch genauer interessiert, wer wann wo in welcher Tracht was getan oder gelassen hat, dem sei der »Brezn Bot«, die vom BR anlässlich des Oktoberfests eingerichtete künstliche Intelligenz, empfohlen.

Als wäre Tradition zum Feiern nicht Grund genug, hat sich das Oktoberfest dieses Jahr in Rekordtracht geschmissen und neue Höhe- beziehungsweise Tiefpunkte erreicht. Bei der vom Deutschen Wetterdienst vermeldeten Spitzenhitze von 30,7 Grad auf der Theresienwiese musste die Aicher Ambulanz am ersten Wochenende nach eigenen Angaben mit 910 Verletzten so viele Gäste verarzten wie noch nie. Obendrein kann das Spektakel offenbar mehr denn je mitverfolgt werden. Zumindest sind den drei großen Mobilfunknetzbetreibern zufolge vor Ort in nur zwei Tagen 135 Terabyte Daten angefallen.

So gelangte ein älterer Herr zu Internetruhm, der im oft verhängnisvollen Wettlauf meist halbstarker Trachtenträger um die besten Plätze besonnen schreitend »Guten Morgen« in eine Handykamera grüßte. Noch pädagogischer dürfte das Video eines aufmerksamkeitsgeilen Hühnen sein, der trotz Verbot eine Maß exen wollte und darum, bevor ihm sein Stunt glücken konnte, von einem noch stämmigeren Sicherheitsmann abgeführt wurde.

Apropos: In neue Höhen sind auch die Bierpreise geschossen. Die offizielle Webseite Oktoberfest.de beziffert die Spanne auf 14,50 bis 15,80 Euro pro Maß, den Anstieg gegenüber 2024 auf durchschnittlich 3,5 Prozent und räumt zudem mit einem weit verbreiteten Mythos auf: »Die Getränkepreise werden nicht von der Landeshauptstadt München festgelegt.« Deren »Angemessenheit« überprüfe man aber durch einen Vergleich mit den »gastronomischen Großbetrieben im Stadtgebiet«. Dort koste der Liter Export zwischen 7,70 und 13,40 Euro – kann also für schmalere fette Taler die Leber ruiniert und »Viva Colonia« skandiert werden. Da auch Tafelwasser (10,95 Euro) und Spezi (12,48 Euro) endgültig zu Luxusprodukten geworden sind, riet Söder den Welt-Zuschauern: »Man muss ja keine 20 Maß trinken.« Wie bescheiden!

Je besinnungsloser das Bechern, desto kalkulierter der Reibach. Der Veranstalter, das Münchener Referat für Arbeit und Wirtschaft, schätzte den Wert der diesjährigen Wiesn im Juli auf 1,57 Milliarden Euro. Davon sollen 634 Millionen direkt auf die Wiesn entfallen, wo 6,7 Millionen Gäste und pro Gast 90 Euro erwartet werden. Der Rest werde für Unterkünfte, Fortbewegung und Dienstleistungen wie Stadtführungen ausgegeben. Zur Abwechslung winkt das große Geld auch mal am lohnabhängigen Ende dieser Rechnung. Bis zu 15.000 Euro könne man in 16 Tagen einheimsen, schildert eine Kellnerin im Interview mit der Berliner Zeitung. Aber Vorsicht: »Wir sagen immer, dass ein Teil des Geldes Schmerzensgeld ist.« Kotze wegwischend oder mit »fast 50 Kilo« Gerstensaft beladen durch Schlägereien manövrieren, will gelernt sein.

Ein weiteres Manko sind die sexistischen Übergriffe: Bei verbalen gäbe es »einen richtig dummen Spruch zurück«, bei tätlichen hieße es unmissverständlich, »dass es für ihn heute hier vorbei ist, wenn er das noch mal macht«. Die Kellnerinnen erkennt man, so heißt es, daran, dass die Dirndlschleife auf dem Rücken gebunden ist. Schleife »links – Glück bringt’s« zeige an, dass Anbandeln erlaubt ist, Schleife rechts das Gegenteil, dass Flirtversuche mit Watschn erwidert werden. Auf dem Bauch gebunden, bringe die Schleife Jungfräulichkeit zum Ausdruck. »Das ist eine vermeintliche Tradition, tatsächlich ist das historisch nicht nachweisbar«, schimpfte das Trachteninformationszentrum schon vergangenes Jahr. Den gaffenden Säufern dürfte das egal sein.

Vom ursprünglichen Charakter des Oktoberfests, das 1810 anlässlich der Hochzeit von Ludwig I. und Therese von Sachsen-Hildburghausen als einendes Nationalfest für das nur vier Jahre zuvor gegründete Königreich Bayern anberaumt wurde, ist heute nur noch eine Hülle übrig: Der Bierpreis ruiniert die Aufhebung der Standesgrenzen, der zur Werbung umfunktionierte Mythos die Tradition und das zugestandenermaßen zuletzt gesunkene Straftataufkommen die Inklusivität. »Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich – und dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln«, ließ Ödön von Horváth die Protagonistin seines Stücks »Kasimir und Karoline« seufzen, als ihre junge Liebe nach einem konfliktreichen Oktoberfestbesuch zerbrochen war. Eine gelungene Allegorie. Das gründlich sortierte Publikum scheint es allerdings nicht zu stören. Für 78 Prozent der Wiesnbesucher bleibt es nicht bei einem Gelage, so die Stadt München. Wer ko, der ko!

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