Wahlen ohne Wähler
Von Wiebke Diehl
Seit Montag wird in Syrien gewählt. Bis Sonnabend sollen die ersten Parlamentswahlen seit dem im Dezember erfolgten gewaltsamen Sturz der Regierung von Baschar Al-Assad durch islamistische Gruppen andauern. Eine Verlängerung ist möglich. Allerdings dürfen die Syrer selbst nicht wählen: 140 regionale Wahlausschüsse, die wiederum vom Obersten Wahlausschuss benannt worden sind, bestimmen über 140 der 240 Parlamentssitze. Die restlichen 70 werden vom ehemaligen, einst mit US-Kopfgeld gesuchten Al-Qaida-Chef Abu Muhammad Al-Dscholani ernannt, der seinen bürgerlichen Namen Ahmed Al-Scharaa wieder angenommen und sich zum Übergangspräsidenten ausgerufen hat. Nicht alle Gouvernements dürfen zudem an den Wahlen teilnehmen, so ist zum Beispiel das Gouvernement Suweida, in dem mit der demokratisch nicht legitimierten Regierung verbundene islamistische Milizen im Juli Hunderte drusische Zivilisten massakriert haben, ausgeschlossen worden. »Aus Sicherheitsgründen« werden auch die kurdisch kontrollierten Gouvernements Hasaka und Rakka nicht einbezogen.
Die von der islamistischen Organisation Hayat Tahrir Al-Scham (HTS) getragene »Regierung« ist dafür bekannt, Syriens Minderheiten zu unterdrücken, zu massakrieren, zu vergewaltigen und zu vertreiben. Wie die Nachrichtenagentur Reuters in einer am 12. September veröffentlichten Recherche darlegt, wurden Ende August – nach den bereits im Frühjahr an Alawiten in den Küstenregionen begangenen Massakern – 90 Prozent der Einwohner eines mehrheitlich alawitischen Vororts von Damaskus vertrieben. Mit »Gewehren, Schwertern und Räumungsbefehlen« bewaffnet hätten Truppen das Viertel Al-Somaria gestürmt und Häuser mit großen schwarzen X’s und O’s besprüht. So sei markiert worden, wer bleiben durfte und wer gehen musste. Wer nicht sofort habe Eigentumsdokumente vorlegen können, dessen Haus sei innerhalb von Minuten mit einem O besprüht worden. Zudem wurden Dokumente teilweise nicht akzeptiert, weil sie zu einer Zeit ausgestellt worden waren, in der Baschar Al-Assad Präsident war.
Am Ende seien nur noch rund 3.000 von ursprünglich 22.000 Einwohnern übrig gewesen, wie Mitglieder des Nachbarschaftskomitees Al-Somaria gegenüber Reuters sagten. Journalisten sprachen von einer »Geisterstadt, ohne Licht in den Häusern, ohne Autos auf den Straßen.« Nach eigenen Angaben wollen die Behörden in Damaskus eine zwei Milliarden teure U-Bahn-Linie bauen – mit einer Umsteigekreuzung und einem Parkhaus für Hunderte von Autos in Al-Somaria.
Während sie die Minderheiten des Landes schikanieren und morden, schauen die mit der demokratisch nicht legitimierten Regierung verbundenen HTS-Milizen zugleich israelischen Invasionen und Besatzungen syrischen Territoriums tatenlos zu. Und damit nicht genug: Seit Monaten finden direkte Verhandlungen mit Syriens einstigem Erzfeind statt. Am Freitag sagte Al-Scharaa, man stehe kurz vor dem Abschluss eines »Sicherheitsabkommens«, in dessen Rahmen Israel in den vergangenen Monaten besetzte Gebiete verlassen solle. Tel Aviv hat allerdings mehrfach betont, strategische Punkte auf syrischem Territorium nicht räumen zu wollen. Die US-amerikanische Regierung wünscht sich einen Durchbruch in den Verhandlungen bis zum Treffen der Staats- und Regierungschefs in New York zur UN-Generalversammlung Ende des Monats. Präsident Donald Trump will sich, so israelische Quellen, als Architekt eines großen Erfolgs in der Nahostdiplomatie präsentieren.
Seit dem Sturz der syrischen Regierung hat Israel Hunderte von Angriffe auf Einrichtungen im Nachbarland geflogen und einen Großteil des syrischen militärischen Arsenals zerstört. Zudem hat die Armee die Besatzung der völkerrechtlich zu Syrien gehörenden Golanhöhen ausgeweitet und die entmilitarisierte Pufferzone besetzt – ein Schritt, der gegen das Truppenentflechtungsabkommen von 1974 verstößt. Trotz der laufenden Verhandlungen drangen israelische Streitkräfte am Wochenende mit Hunderten Reservisten in ihrem bislang größten Einsatz seit Dezember 38 Kilometer auf syrisches Territorium vor.
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