Eine Armee haut ab
Von Reinhard Lauterbach
Die ukrainische Armee zählt nach eigenen Angaben und denen befreundeter westlicher Analyseinstitute etwa 800.000 Mann. Davon stehen denselben Angaben zufolge rund 400.000 an der Front. Sollten sie zumindest. Denn die Realität sieht offenbar anders aus: In den ersten acht Monaten dieses Jahres sind mindestens 142.000 Soldaten desertiert. Das geht aus offiziellen Angaben über die Zahl der neu eröffneten Ermittlungsverfahren wegen der Paragraphen 406 (»eigenmächtige Entfernung von der Truppe«) und 407 (»Desertion«) hervor, die jetzt der kanadisch-ukrainische Wissenschaftler Ivan Katchanovski ausgewertet hat. Die Zahlen über die eröffneten Ermittlungsverfahren seien mit Sicherheit untertrieben, schrieb Katchanovski am Sonntag im Onlinedienst X. Denn die Kommandeure drückten gerade bei kurzzeitiger Abwesenheit vom Dienst in der Regel ein Auge zu, um nicht selbst Schwierigkeiten mit ihren Vorgesetzten wegen »Disziplinproblemen« oder »mangelhafter Menschenführung« zu bekommen.
Halten wir uns einstweilen an die offiziellen Angaben. Sie zeigen auch, dass das Phänomen der unerlaubten Abwesenheit in diesem Jahr stark zugenommen hat: Seit dem russischen Einmarsch haben die Behörden 265.843 einschlägige Ermittlungsverfahren eröffnet; die Dynamik weist also klar nach oben, wenn mehr als die Hälfte der offiziellen Ermittlungsverfahren allein auf das laufende vierte Kriegsjahr entfällt. Die monatlichen Desertionszahlen liegen für 2025 stabil in einer Bandbreite zwischen 16.000 und 19.000 Fällen pro Monat. Wenn wir die 142.000 Verfahren seit Januar hochrechnen auf den Rest des Jahres, kämen wir auf etwa 210.000 Fälle bis Ende Dezember, die den ebenso hochgerechneten 330.000 seit 2022 gegenüberstehen – ein Anteil von etwa zwei Dritteln im laufenden Jahr.
Die gemeldeten und angeklagten Fälle betreffen somit rund 30 Prozent der Sollstärke der Fronttruppen, wenn man davon ausgeht, dass die andere Hälfte der Soldaten, die irgendeinen Posten im Hinterland ergattert hat, weniger Anlass hat, sich vor dem Dienst zu drücken, oder eine vorübergehende Abwesenheit von der Truppe dort weniger auffällt.
Der Unterschied zwischen »eigenmächtiger Entfernung« und »Desertion« liegt juristisch in der Dauer der Abwesenheit des Soldaten. Bis zu einer Woche »Urlaub auf eigenen Wunsch« wird in der Regel geduldet, sofern sich der Soldat anschließend wieder bei seiner Einheit meldet. Zumindest theoretisch bekommt der rückkehrwillige Soldat sogar seinen Sold für die »Auszeit« weitergezahlt. Mit dieser laxen Praxis trägt die ukrainische Militärführung auch dem Umstand Rechnung, dass ein System regelmäßigen Wechsels zwischen Fronteinsatz und Heimaturlaub nicht existiert, und die Soldaten theoretisch – sofern sie bis heute überlebt haben – ab ihrer Einberufung ununterbrochen zu dienen haben, im Extremfall also inzwischen dreieinhalb Jahre.
Dass das System der »Rotation« nicht funktioniert, liegt wiederum auch daran, dass der Zufluss der Reservisten zur ukrainischen Armee unregelmäßig ist und ein Ersatz damit kaum kalkulierbar. Planzahlen von 30.000 neuen Einberufungen pro Monat werden regelmäßig gerissen. Wie unbeliebt der Kriegsdienst bei der verbliebenen männlichen Bevölkerung ist, zeigt sich indirekt an der Dynamik der Schmiergelder, die bei den Wehrersatzbehörden gefordert und zumindest teilweise wohl auch gezahlt werden. Wie kürzlich ein patriotisch entrüsteter ukrainischer Soldat einer Einheit aus dem Transkarpatengebiet gepostet hat, liegt der »Tarif« inzwischen bei 8.000 US-Dollar dafür, dass der Einberufene einer Einheit seiner Wahl zugeteilt wird – und bei 30.000 Dollar dafür, vom Wehrersatzamt nach Hause zurückkehren zu können. Ohne Garantie bei der nächsten Razzia. Denn eventuelle Bescheinigungen über Unabkömmlichkeit wegen »kriegswichtiger Tätigkeit« im Hinterland kosten extra.
Hinter dramatischen Schilderungen ukrainischer Kommandeure über die Unterbesetzung ihrer Einheiten steht vermutlich der Faktor der Desertion und der eigenmächtigen Entfernung an wichtiger Stelle. Ohne die Verluste bagatellisieren zu wollen: Wenn russische Militärstellen routinemäßig über mehrere hundert bis über 1.000 getötete »Ukrokämpfer« berichten, sind diese Angaben mit hoher Wahrscheinlichkeit übertrieben.
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Die KillNet-Gruppe bestätigte gegenüber RIA Novosti, dass sie über den Arbeitscomputer des Leiters der Logistikabteilung, mit Nachnamen Tschernych, in die Datenbank eingedrungen sei. Die Informationen waren auf OneDrive-Cloud-Ressourcen gespeichert. Zu den Informationen gehörten Fotos verstorbener Soldaten, deren Pässe und Militärunterlagen, Sterbeurkunden und Erkennungsmarken.
Darüber hinaus verschafften sich die Hacker Zugriff auf Daten des Kommandos der Spezialeinsatzkräfte der Ukraine (AFU) und der Hauptnachrichtendienstdirektion des ukrainischen Verteidigungsministeriums sowie auf Listen der Länder, die während des Konflikts Militärhilfe leisteten, und von Waffenlieferungen. Die von Hackern aufgedeckten Informationen, wonach die AFU während der Spezialoperation 1,7 Millionen Soldaten verloren habe, erscheinen plausibel. Zählt man zu dieser Zahl die Verwundeten und Gefangenen hinzu, kann man davon ausgehen, dass die Mobilisierungsreserven der Ukraine erschöpft sind, sagte der russische Militärexperte Alexey Leonkov gegenüber RIA Novosti und fügte hinzu, grundsätzlich ist die Zahl plausibel, wenn wir die Dynamik der offiziellen Aussagen verfolgen“. Er erinnerte weiter daran, dass der Leiter des russischen Verteidigungsministeriums, Andrej Belousow, bereits im Dezember 2024 die Verluste der Streitkräfte seit Beginn der Spezialoperation auf fast eine Million Menschen geschätzt hatte. „Seitdem haben die ukrainischen Kämpfer allein durch Todesfälle 50.000 bis 60.000 Mann pro Monat verloren. Acht Monate sind vergangen. Wenn wir also zu dieser Million noch etwa 500.000 Menschen hinzurechnen, sind diese Zahlen korreliert“, fügte der Experte hinzu. Er betonte, dass die am Mittwoch veröffentlichten Zahlen die Verwundeten, Deserteure und Gefangenen nicht berücksichtigten. „Diese Zahl könnte man mit einem Drittel multiplizieren, und dann wird klar, warum Selenskyj und seine Sponsoren in Westeuropa auf einem sofortigen Waffenstillstand bestehen. Die Mobilisierungsreserve der Ukraine vor Beginn der SVO wurde auf 5 Millionen Menschen geschätzt. Wenn man die allgemeine Arithmetik anwendet, ist die Mobilisierungsreserve der Ukraine praktisch erschöpft“, sagte Leonkow.