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Aus: Ausgabe vom 08.09.2025, Seite 12 / Thema
Weltordnung

Jenseits von Gut und Böse

Vorabdruck. Wider den Bellizismus der Gegenwart. Für eine Friedensbewegung auf der Höhe der Zeit
Von Peter Wahl, Erhard Crome, Frank Deppe und Michael Brie
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Der Friedensbewegung muss es gelingen, trotz der zahlreichen Kontroversen eine gemeinsame Handlungsfähigkeit zu ermöglichen. Antikriegsproteste in Köln (30.8.2025)

In den kommenden Tagen erscheint im Papyrossa-Verlag das Buch »Weltordnung im Umbruch. Krieg und Frieden in einer multipolaren Welt« von Peter Wahl, Erhard Crome, Frank Deppe und Michael Brie. Wir veröffentlichen mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autoren das sechste Kapitel, redaktionell gekürzt. Das Buch kann unter www.papyrossa.de bestellt werden. (jW)

Der Bedarf an Verständigung über das Neue wie über das Bewahrenswerte ist in Zeiten des Umbruchs besonders groß. Es genügt nicht, die Welt verändern zu wollen, man muss sie zunächst richtig interpretieren. Im Folgenden sollen einige grundlegende Felder skizziert werden, auf denen die Friedensbewegung gefordert ist, wenn sie in der diskursiven Auseinandersetzung erfolgreicher werden will.

Einer der ersten Schritte wäre, eine politische Kultur zu pflegen, in der Kontroversen ohne sektiererische Haarspalterei bearbeitet werden können. Dabei muss nicht immer eine Einigung in der Sache gefunden werden, aber ein Modus Vivendi, der trotz fortbestehender Pluralität gemeinsame Handlungsfähigkeit ermöglicht.

Allerdings gibt es auch bei Fragen, in denen innerhalb der Bewegung Konsens besteht, die Notwendigkeit, sie viel stärker nach außen für die Öffentlichkeit verständlich zu machen. Es geht um den Aufbau von diskursiver Gegenmacht gegenüber Bellizismus und Militarismus.

Viel Wissen, das in früheren Phasen der Friedensbewegung Allgemeingut war, ist verlorengegangen. Für jüngere Generationen ist der Krieg historisch und geographisch weit weg. Wer im Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, wie die Mehrheit der heute Friedensengagierten, hat noch auf Trümmergrundstücken gespielt, und bei Gesprächen mit Eltern und Großeltern waren die Schrecken des Krieges immer präsent. Für heute Zwanzigjährige liegt der Zweite Weltkrieg so weit zurück, wie für Achtundsechziger der deutsch-französische Krieg 1870/71. Deshalb ist es unumgänglich, auch historische Erfahrung lebendig zu halten und grundlegende Einsichten in die Logik von Krieg und Frieden populär zu machen. Dass die politisch bestimmenden Kräfte 1555 den Augsburger Religionsfrieden vereinbart hatten, hielten die politisch Herrschenden Anfang des 17. Jahrhunderts für einen Ausdruck politischer Feigheit. Hier liegt einer der Gründe für den Dreißigjährigen Krieg (1618–48), dem etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung zum Opfer fiel.

Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl hatten noch eine unmittelbare Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, Gerhard Schröder und Angela Merkel eine mittelbare Erinnerung. Die heutige Generation der politischen Klasse meint, die historischen Erfahrungen ignorieren zu können – sofern sie überhaupt über historische Kenntnisse verfügt. Nach neueren historischen Untersuchungen ist es immer die dritte Nachkriegsgeneration, die meint, wieder kriegstüchtig sein zu müssen: »Die Geschichte zeigt: Wenn die letzten Zeitzeugen großer Kriege gestorben sind, scheint Krieg wieder eine realistische Option zu werden. Genau an diesem Punkt stehen wir heute, wo viele denken: ›So schlimm ist das doch auch nicht. Da werfen wir wieder ein paar Bomben und bringen ein paar Leute um.‹ Doch diese Vorstellung, Konflikte mit Bomben zu lösen, führt ins nächste Desaster«, so der renommierte Soziologe Hartmut Rosa.¹

Zur Kritik des Bellizismus

An erster Stelle steht dabei die Kritik an dem schon in der Antike formulierten Dogma »Si vis pacem, para bellum! – Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor!« Das Dogma von der Sicherung des Friedens durch deutsche und EU-europäische Aufrüstung wird seit Ausrufung von Olaf Scholzens »Zeitenwende« und dem Bruch im transatlantischen Verhältnis auf allen Kanälen unaufhörlich verkündet.

Auf den ersten Blick erscheint dieses Dogma vielen plausibel. Übersehen wird dabei allerdings sein fundamentaler Defekt: Die Gegenseite denkt genauso! Daraus entwickelt sich dann prompt eine Spirale aus Aufrüstung, Konfrontation und Eskalation. Frieden wird damit gerade nicht erreicht, denn »Konflikte haben die Tendenz, sich in räumlicher und zeitlicher Hinsicht lawinenartig auszudehnen: Sie ziehen immer mehr Leute hinein, und sie vergrößern sich in ihrer inhaltlichen Bedeutung«.² Dies gilt besonders dann, wenn Konflikte durch Feindbilder aufgeladen werden. Beide Seiten häufen explosives Material an, so dass der sprichwörtliche Funke genügt, um es explodieren zu lassen. Funke kann ein Softwarefehler sein oder ein Attentat – 1914 wurde in Sarajevo ein Thronfolger erschossen und damit die Eskalation zum Ersten Weltkrieg ausgelöst. Zu einem solchen Funken können auch die Fehleinschätzungen von EU-Funktionären oder deutschen Spitzenpolitikern werden, die es für eine gute Idee halten, ihre ukrainischen Stellvertreter mit weitreichenden Raketen nach Russland schießen zu lassen.

Das Dogma der Friedenssicherung durch Kriegsvorbereitung blendet aus, dass Konflikt und Krieg immer im Wechselverhältnis stehen und systemischen Charakter tragen. Wer Konflikt nur aus der Perspektive einer Seite sieht, ist erstens blind dafür, wie Eskalationsdynamik funktioniert, und zweitens unfähig, eine politische Kompromisslösung zu erreichen. Es gibt dann nur noch die Alternative Sieg oder Niederlage, die schnell in nicht enden wollende Kriege und wechselseitige Zerstörung mündet.

Eng verwandt mit dem genannten Dogma ist der Gedanke der Abschreckung, sei sie konventionell oder atomar. Zum einen gilt auch hier, dass beide Seiten so denken und dementsprechend aufrüsten. Zum anderen kommt hinzu, dass Abschreckung letztlich im Kopf des Gegners funktionieren muss. Denn dieser muss überzeugt davon sein, dass er angesichts der militärischen Stärke der anderen Seite keine Chance hat und deshalb auf einen Angriff verzichtet. Das hat bisher zwar bei der atomaren Abschreckung funktioniert und einen Atomkrieg verhindert. Offenbar weil den Nuklearmächten das Risiko vom eigenen Untergang bewusst war, ganz im Gegensatz zur Unter- oder gar Geringschätzung eines Atomkriegs, wie sie von deutschen Stimmen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg mit dem Tenor »Warum Putins nukleares Säbelrasseln den Westen nicht beeindrucken darf!« (Redaktionsnetzwerk Deutschland, 20.11.2024) immer wieder zu hören ist. Dies bedeutet, dass jede Seite ein extrem großes militärisches Potential aufzuhäufen sucht, was zwangsläufig die Bedrohungsängste der anderen Seite nur noch steigert – und dies immer weiter.

Was, wenn eine Staatsführung nicht von der selbstzerstörerischen Logik überzeugt ist? Wenn sie die Kräfteverhältnisse falsch einschätzt? Wenn es zu einer technologiebedingten Fehlwahrnehmung kommt? Wenn eine Seite so mit dem Rücken zur Wand steht, dass sie im Angriff ihre letzte Rettung zu finden glaubt? Oder wenn ein skrupelloser Staatschef schlicht durchgeknallt ist?

Wie leicht Fehleinschätzungen zustande kommen, kann man sehr schön am Beispiel des Ukraine-Krieges studieren. Vom russischen Einmarsch war zum Beispiel auch der deutsche Auslandsgeheimdienst BND so überrascht, dass sein Chef einen Besuch in Kiew am 24. Februar 2022 Hals über Kopf abbrechen und das Land in einer Autokolonne statt per Flugzeug verlassen musste. Vom Kreml wurde der Krieg in der Annahme begonnen, dass Kiew nach wenigen Tagen kapitulieren würde. Das war ein gravierender Irrtum, denn man hatte die ukrainische Armee anfangs völlig unter- und die eigenen militärischen Fähigkeiten extrem überschätzt.

Aber auch im Westen herrschte zunächst die Auffassung vor, dass die Ukraine keine Chance habe, dem Angriff Russlands zu widerstehen. Daher das Angebot Washingtons an Selenskij, ihm die Flucht und Exil zu ermöglichen.

Geblendet vom russischen Misserfolg und ermutigt vom Westen, mit Waffenhilfe und Sanktionen ging die Serie der Fehleinschätzungen weiter. Auch der politische Mainstream im Westen, die staatstragenden Medien und viele der von ihnen zitierten Experten glaubten dies. So der angebliche Militärexperte und bevorzugte Interviewpartner Carlo Masala (Universität der Bundeswehr München) im September 2022: »Den russischen Streitkräften in der Ukraine geht schon seit langem die Puste aus.« (BR 24, 12.9.2022) Auch das war ein Irrtum.

Die Irrtümer auf allen Seiten bestätigen einmal mehr, was man spätestens bei Clausewitz nachlesen kann: »Der Krieg ist das Gebiet der Ungewißheit; drei Vierteile derjenigen Dinge, worauf das Handeln im Kriege gebaut wird, liegen im Nebel einer mehr oder weniger großen Ungewißheit.« Seit dem Trojanischen Krieg wimmelt die Geschichte nur so von fatalen Fehleinschätzungen. Vor diesem Hintergrund wird der Charakter von Abschreckung im Atomzeitalter kenntlich: Es ist ein Vabanquespiel mit dem Schicksal der Menschheit.

Das Kohlhaas-Syndrom

Ein weiteres, weitverbreitetes Prinzip des aktuellen Bellizismus ist die Methode, eine lange Konflikt- und Eskalationsgeschichte auf einen einzigen Zeitpunkt und Sachverhalt zu schrumpfen. Und das natürlich auf den, der sich am besten für die Rechtfertigung der eigenen Position eignet. Daran wird dann die Kriegsschuldfrage festgemacht. Die Zuweisung der Schuld dient als Blankoscheck für grenzenlose Vergeltung und die Weigerung, eine politische Kompromisslösung anzustreben oder zu akzeptieren.

Im Gaza/Nahostkrieg ist es der Überfall der Hamas, beim Ukraine-Krieg der russische Angriff auf die Ukraine 2022. Was davor geschah, fällt unter den Tisch, ebenso wie das, was danach an weiterer Eskalation betrieben wurde, wie die brutale Kriegführung Israels in Gaza oder der Einstieg des Westens als Sponsor des Stellvertreterkriegs gegen Russland. Auf unverstellte Weise bringt der Chef des Springer-Konzerns, Mathias Döpfner, die Methode auf den Punkt: »Und es gibt eine Floskel, die ich nicht mehr ertragen kann: ›Ja, aber‹. Ja, die Angriffe der Hamas sind furchtbar, aber irgendwie muss man auch Verständnis für die andere Seite haben (…) Was denn ›aber‹? Es gibt da kein Aber.« (Bild am Sonntag, 29.10.2023) Es darf nur eine Sicht auf die Dinge geben.

Das ist die Leugnung des schon vor 2000 Jahren im Römischen Recht verankerten Postulats »auditur et altera pars – Gehört werden muss auch die andere Seite!« Volkstümlich auch »Eines Mannes Rede, keines Mannes Rede«, und in jedem zivilisierten Rechtssystem das Prinzip, dass im Streitfall nicht nur die Anklage, sondern auch die Verteidigung gehört werden muss.

Im Zusammenhang mit internationalen Konflikten, an denen Groß- und Nuklearmächte beteiligt sind, kommt als eine weitere, menschheitsgeschichtlich völlig neue Dimension hinzu: Wenn eine Eskalationsdynamik außer Kontrolle gerät, kann dies zur Auslöschung des Homo sapiens führen.

Hier kommt dann ein ebenfalls altbekanntes Problem ins Spiel, das alle Jurastudenten im Proseminar durchnehmen: »fiat iustitia et pereat mundus – Es werde Gerechtigkeit, auch wenn die Welt untergeht!« Das Gegenteil dieser offensichtlich grotesk antihumanen Maxime ist das Rechtsstaatsprinzip der Verhältnismäßigkeit. So wenig wie heute der Diebstahl eines Schokoriegels im Supermarkt mit dem Abhacken einer Hand bestraft wird, so wenig ist die Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen zur Vergeltung für den Angriff der Hamas verhältnismäßig oder ein Atomkrieg um die Wiederherstellung der ukrainischen Souveränität über Sewastopol.

Aber all jene, die meinen, einen Krieg um jeden Preis bis zum Sieg weiterführen zu müssen, weil Angriff nicht belohnt werden dürfe, denken wie Michael Kohlhaas, der Pferdehändler aus Kleists Novelle. Dem nahm ein Feudalherr widerrechtlich zwei Pferde weg, Kohlhaas klagt vor Gericht, verliert, klagt ein zweites Mal und verliert wieder. Von Wut und Rachedurst überwältigt, greift er dann selbst zu Gewalt, bildet eine Bande, mordet und brandschatzt. In einem letzten Prozess bekommt er dann aber seine Pferde doch zurück – und wird als Massenmörder zum Tode verurteilt. So kann Gerechtigkeit enden, wenn sie blind und maßlos verabsolutiert wird.

Konflikt und Krieg auf Kategorien von Schuld und Unschuld zu reduzieren, führt dazu, das komplizierte Geflecht an Aktionen und Reaktionen und die daraus entstehende Eskalationsdynamik zu einem simplen »richtig oder falsch«, »gut oder böse« zu vereindeutigen. Das ist nicht nur eine Verzerrung der Wirklichkeit, die zu Blindheit gegenüber den Ursachen von Konflikten führt, sondern blockiert auch angemessene Lösungen. Eine derartige abstrakte Moralisierung eines Großkonflikts enthebt die Akteure der Verantwortung für die Folgen ihres Handelns.

Und schließlich verlangen auch UN-Charta und Völkerrecht nicht nur, Krieg zu vermeiden, sondern, wenn es doch zum Krieg gekommen ist, alles zu tun, ihn zu beenden. Bereits die erste Ukraine-Resolution der UN-Vollversammlung vom März 2022, in der 143 Staaten den russischen Einmarsch verurteilen, verlangt die »friedliche Beilegung des Konfliktes zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel«. Allerdings wurde in der Berichterstattung in Deutschland bzw. im Westen diese Passage von den meisten Medien unterschlagen.

Feindbilder für Kriegstüchtigkeit

Zwischenstaatliche Beziehungen sind immer auch ideologisch geprägt. Ideologien zielen darauf ab, die soziale Wahrnehmung zu strukturieren, Klassifizierungsschemata durchzusetzen, normative Wertungen diskursiv zu implementieren und Akteure und ihre Strategien zu legitimieren bzw. zu delegitimieren.

Eine besondere Rolle bei der ideologischen Vorbereitung und Führung von Kriegen nehmen Feindbilder ein. Feindbilder sind zugleich Resultat und Treiber von Konflikt. Wenn unterschiedliche Interessen aufeinanderstoßen, können Akteure Feindbilder als quasi ideologischen Überbau über den ursprünglichen Konfliktursachen erzeugen. Aus der wechselseitigen Wahrnehmung der Kontrahenten entstehen über die realen Interessen hinaus Zuschreibungen, die eine kohärente Negativerzählung vom anderen erzeugen, den Gegner dämonisieren, ihn als aggressiv, barbarisch oder auch minderwertig zeichnen. Anstelle der Suche nach Lösungen im Interesse beider Seiten tritt das Bestreben, dem anderen zu schaden oder ihn sogar zu vernichten. Der mögliche Partner wird zum Feind erklärt. Damit sollen Angst, Verachtung, Hass, Aggressionsbereitschaft hervorgerufen und soll Druck auf jene ausgeübt werden, die all das nicht teilen. Denn gebraucht wird »die Bereitschaft vieler Millionen, unser Land und unser freies Europa gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen«, so ein rabiat militaristischer Leitartikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.4.2025).

Feindbilder können sehr lange und nachhaltig das kollektive Bewusstsein einer Bevölkerung prägen, insbesondere dann, wenn sie bewusst gepflegt werden. Ein berüchtigtes Beispiel ist die »deutsch-französische Erbfeindschaft«, die während anderthalb Jahrhunderten ein Treiber in drei Kriegen war, darunter die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Die Feindbildproduktion kann dabei groteske Züge annehmen. So will selbst ein ansonsten so kluger und sensibler Literat wie Kleist zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Rhein einen Staudamm aus den Gebeinen von Franzosen bauen: »Dämmt den Rhein mit ihren Leichen; Laßt, gestäuft von ihrem Bein, schäumend um die Pfalz ihn weichen, und ihn dann die Grenze sein. Eine Lustjagd, wie wenn Schützen auf die Spur dem Wolfe sitzen! Schlagt ihn tot! Das Weltgericht fragt euch nach den Gründen nicht!«³ Bemerkenswerterweise löste sich nach 1945 die deutsch-französische Erbfeindschaft in nichts auf.

Ganz im Gegensatz zum Feindbild Russland. Als »asiatisch«, also uneuropäisch, war es eine rassistische Ausgrenzung, erfunden an der polnischen Universität Kraków im 16. Jahrhundert, um den damaligen Versuchen der polnischen Krone, sich Russland zu unterwerfen, eine ideologische, sprich: religiöse Untersetzung zu geben. Denn das orthodoxe Christentum stammt aus Konstantinopel, während Polen römisch-katholisch war. Von Kraków aus gelangte das Feindbild über Deutschland nach Westen. Nach Napoleons Niederlage 1812 erreichte es in der Restaurationsepoche auch die deutsche Linke. Die Rolle des zaristischen Russlands als einer der mächtigsten Garanten feudaler Zustände und des Staatensystems des Wiener Kongresses von 1815 sowie die besonders rückständigen gesellschaftlichen Verhältnisse in Russland selbst, die schließlich zur Oktoberrevolution führten, waren dabei entscheidende Motive.

Das Feindbild Russland spielte auch eine Rolle für den Ersten Weltkrieg, um die damals noch linke SPD zur Bewilligung der Kriegskredite zu bewegen. Weiter ging es danach mit dem deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, angereichert durch die »jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung« und die Herrenmenschenideologie vom »slawischen Untermenschen«. Im Kalten Krieg setzte sich die Tradition in Westdeutschland ungebrochen fort, oft in bemerkenswerter Primitivität, wenn etwa auf CDU-Plakaten eine Fotomontage mit dem Kölner Dom zu sehen ist, davor ein Rotarmist mit Kalaschnikow und der Frage »Wollt Ihr ihn hier haben?«

Nach einer kurzzeitigen Abschwächung während der Gorbatschow-Begeisterung in den 1980/90er Jahren setzten parallel zur NATO-Osterweiterung die alten Reflexe wieder ein. Als in der Coronapandemie Russland einen eigenen Impfstoff entwickelte, hieß es in einer überregionalen Zeitung, die den sogenannten Qualitätsmedien zugerechnet wird: »Auch wenn ein russisches Produkt im internationalen Wettbewerb mithalten kann, der Stempel des Russischen ist und bleibt ein Makel.« (Die Welt, 4.11.2020)

Das Russische als Makel, dem nicht zu entkommen ist! Der Artikel erschien eineinhalb Jahre vor dem Ukraine-Krieg. Aber auch damals wimmelte es in der Publizistik bereits von Nazivergleichen und Karikaturen, die Putin als Hitler darstellten. Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine wurde das Ganze noch einmal um Größenordnungen gesteigert. So bekannte Johann Wadephul zwei Monate vor seiner Ernennung zum Außenminister, Russland werde »immer ein Feind und eine Gefahr für unsere europäische Sicherheit sein«. (Spiegel, 5.2.2025)

Autokratisches Russland

Natürlich bedeutet eine Kritik an Feindbildern nicht, dass daraus eine Identifikation mit Russland folgen würde, wie sie zu Zeiten der Sowjetunion bei vielen Linken anzutreffen war, als das Land als »Vaterland der Werktätigen« und als mehr oder minder progressive Alternative zum Kapitalismus angesehen wurde. Das Russland von heute ist ein kapitalistisches Land, und sein politisches System trägt autokratische Züge. Einige Elemente aus der zaristischen und sowjetischen Vergangenheit haben dabei über alle Systemwechsel hinweg Bestand: eine Geheimpolizei, die keiner wirklichen gerichtlichen Kontrolle untersteht; eine Gerichtsbarkeit, die unter Staatsräson arbeitet; und wer gegen die Staatsführung zu agieren versucht, riskiert Arbeitslager. Wie immer in Kriegszeiten, verschärft sich auch im Russland von heute die Repression gegen Kräfte, die als »unpatriotisch« klassifiziert werden.

Doch im Vergleich zum Zarenregime und der Herrschaft der KPdSU bedeuten autokratische Praktiken, dass begrenzt Pluralismus besteht, darunter mehr oder minder saubere Wahlen, systemkonforme Zivilgesellschaft und Oppositionsparteien – in Russland unter anderem die Kommunistische Partei. Das System und seine Führung verfügen darüber hinaus über Akzeptanz bei einer Mehrheit der Bevölkerung. Grund- und Menschenrechte sowie Rechtsstaatlichkeit sind teilweise, aber nicht völlig außer Kraft, die Medien unterliegen bei politisch brisanten Themen staatlicher Kontrolle. Offene Repression wird vor allem gegen Kräfte gerichtet, die angeblich oder tatsächlich einen Systemwechsel anstreben. All das unterscheidet eine Autokratie deutlich von einer Diktatur oder gar Despotie und erst recht fällt Russland nicht unter die Kategorie Faschismus.

Übrigens ebenso wenig wie die Ukraine, der Moskau genau das vorwirft, auch wenn es kein Land gibt, in dem der Einfluss neofaschistischer Kräfte auf Politik und Gesellschaft und der positive historische Bezug auf Faschisten wie Stepan Bandera so stark sind wie in der Ukraine. Dabei kann auch nicht als Entschuldigung gelten, dass Bandera nur wegen seiner antisowjetischen Haltung mit Nazideutschland kollaborierte. Tatsächlich war er ein lupenreiner Faschist, wie ein Blick in das Programm seiner Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und erst recht deren antisemitischen Pogrome und die Massaker gegen polnische und russische Zivilisten zeigen.

Auch das politische System der Ukraine war schon vor Kriegsbeginn mit der Herrschaft seiner Oligarchen und allfälliger Korruption weit von den Standards liberaler Demokratien entfernt. Und für die Kriegszeit kann angesichts von Parteienverboten und Gleichschaltung der Medien von Demokratie nicht die Rede sein, wie selbst der Kiewer Oberbürgermeister Klitschko im Interview mit der Londoner Times bestätigt: »Ich habe einmal gesagt, dass es in unserem Land nach Autoritarismus riecht. Jetzt stinkt es danach.«

Nach dem in unseren Medien beliebten »Demokratieindex« der britischen Wochenzeitschrift The Economist waren 2021 nur 21 Länder »vollständige Demokratien«. Nun stecken in solchen Rankings immer eine Menge methodischer Probleme und ein ideologisches Vorverständnis. Aber zutreffen dürfte, dass die Mehrheit der Länder eher unter die Kategorie autoritär als demokratisch fallen. Dabei gibt es innerhalb der Kategorie autoritär wiederum viele Abstufungen. Zwischen Ungarn, Russland und Polen einerseits und Saudi-Arabien und Myanmar andererseits dürften große Abstände liegen.

Und auch bei manchen Demokratien ließe sich darüber streiten, ob zum Beispiel die Verfassung der französischen V. Republik mit ihrer Machtfülle für den Präsidenten nicht ebenfalls autoritäre Züge trägt, ganz zu schweigen von den USA in den Zeiten der Präsidentschaft Trumps. Die Übergänge zwischen Demokratie und Autokratie sind fließend.

Auf keinen Fall jedoch ist es Aufgabe der neuen deutschen, der europäischen oder irgendeiner anderen Außenpolitik, ihre Vorstellungen von Demokratie mit Konfrontation, militärischer Abschreckung oder gar Krieg gegen andere Länder durchzusetzen. Von daher wird eine der wichtigsten Aufgaben der Friedensbewegung sein, auch dem Feindbild Russland entgegenzutreten.

Anmerkungen

1 Zit. nach Berliner Zeitung vom 12/13.7.2025, S. 25

2 Johan Galtung: Institutionalisierte Konfliktlösung. Ein theoretisches Paradigma. In: Walter Bühl (Hg.): Konflikt und Konfliktstrategie. Ansätze zu einer soziologischen Konflikttheorie. München 1972, S. 116

3 Das linksrheinische Gebiet, darunter die Pfalz, war von 1796 bis 1812 Teil Frankreichs.

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