Imperialismus der feinen Herren
Von Gerhard Hanloser
Der Golfkrieg 1991 gilt als erster Weltordnungskrieg inmitten des Endes der Ordnung des Kalten Krieges. Er führte auch zum Zerfall und einer Neuzusammensetzung der traditionellen Linke. Damals befand sich die an der Sowjetunion orientierte Linke in einem Paralysezustand. Der »große Bruder« UdSSR war bereits in Auflösung begriffen, der Warschauer Pakt wurde gerade abgewickelt, Gorbatschow trug den Boykott und die Ultimaten der UNO gegen den Irak, der sich unter der Diktatur Saddam Husseins Kuwait einverleibt hatte, mit. Schließlich billigte die Sowjetunion den US-geführten Krieg am Golf 1991.
Die Mehrheit der außerparlamentarischen Linken stellte sich in antiimperialistischer Haltung gegen den Krieg. Doch einige Intellektuelle und Publizisten scherten aus diesem Grundkonsens aus, wie etwa der Frankfurter 68er Detlev Claussen, der sich dann später auch aus der traditionsreichen Zeitschrift Links verabschiedete. Er sah den »Bellizismus« – also eine Position, die dem Krieg emanzipatorische Potentiale bescheinigt – als richtige Haltung an, um den völkerrechtsbrüchigen Saddam Hussein, der zur Gefahr für die ganze Golfregion geworden sei, zu stoppen. Gleichzeitig schalt er den alten Internationalismus der Linken, der als Antiimperialismus zu einem »Ressentiment« verkommen sei. Dieser habe den Despoten Hussein fälschlicherweise zu einem Statthalter der Anliegen der »Dritten Welt« erklärt.
Als der Herrscher des Irak im Zuge der Eskalation des Golfkriegs den Palästina-Konflikt instrumentell befeuern wollte und Raketen auf Israel abschoss, fand auch die antifaschistische Redaktion der Zeitschrift Konkret Anschluss an diesen Bellizismus, den sie vornehmlich antiantisemitisch begründete. Dazu musste sie die Friedensbewegung, der die traditionsreiche linke Monatszeitschrift lange Zeit verpflichtet war, als »antisemitisch« und »antiamerikanisch« darstellen. Dies geschah gegen jede Empirie und Wahrhaftigkeit. Tatsächlich waren jene Stimmen, die sich im Sinne eines von Claussen befürchteten »Antiimperialismus der dummen Kerls« einen Sieg Husseins herbeiwünschten, nahezu nicht existent. Auf großen Friedensdemonstrationen betonten die damaligen Aktivisten ihre Solidarität mit dem vom Irak im Kriegsgeschehen angegriffenen Israel, erinnerten an die Massaker an den Kurden, die der irakische Diktator Ende der 1980er Jahre mit deutschem Giftgas durchführte, und riefen zum Boykott deutscher Waffenschmieden auf.
Geburt der Antideutschen
1991 kamen die bellizistischen Stimmen aus einem intellektuellen Ex-68er-Milieu, das sich in den 1970er Jahren, dem »roten Jahrzehnt«, formiert hatte. Zu nennen wären Hans Magnus Enzensberger, Wolf Biermann, Eike Geisel und Wolfgang Pohrt. Letzterer wünschte sich 1991 in Konkret einen Atombombenabwurf auf Bagdad und wollte in Antimilitaristen und Friedensaktivisten bestenfalls lächerliche »piepstimmige Erzieherinnen«, schlimmstenfalls eine neue SA erblicken. Geisel steigerte seinen Bellizismus zu genozidalen Phantasien. Die durch die USA getöteten 100.000 irakischen Soldaten seien ja keine »edlen Wilden«, so erklärte Geisel im Juli 1991 in Konkret in rassistischer Weise, sondern dazu ausgebildet gewesen, Menschen auszurotten oder Israel in ein Krematorium zu verwandeln. Er legitimierte das Abschlachten von teils desertierenden, teils bereits geschlagenen Soldaten des Irak. Vor der Erregungsbühne des vorgeblichen »Antiimperialismus der dummen Kerls« spielte sich ein recht harscher Proimperialismus der feinen Herren ab. Versuchten die antiimperialistischen Kriegsgegner mit der moralischen Ablehnung eines imperialistischen Lebensstandards (»Kein Blut für Öl«) zu argumentieren, so wucherte der neue Proimperialismus mit so moraltriefenden wie verlogenen Auschwitz- und Israel-Bekenntnissen.
Der Golfkrieg 1991 war innerhalb der radikalen Linke die Geburtsstunde der »Antideutschen«, die später für militaristische Israel-Solidarität (»Waffen für Israel«) eintraten, den Irak-Krieg 2003 befürworteten und gegen linken Antimilitarismus agitierten. Diese militaristische und probellizistische Linke hat sich in interessanter Weise diskursiv dem proatlantischen Regierungskurs verschrieben. Die Anklagen an eine antiimperialistische oder antimilitaristische Linke, sie sei »antiamerikanisch« oder »antisemitisch«, folgten konservativen und rechten Erzählungen über die Linke, die stets wenig Skrupel hatten, dem Gegner Ungeheuerlichkeiten zu unterstellen.
Der »linke« Bellizismus neueren Datums zieht immer den deutschen Faschismus als Analogie heran. Auch die Nazis mussten mittels Krieg von außen besiegt und niedergerungen werden, so die Hauptlinie seiner Argumentation. Dies sei eine jederzeit zu aktualisierende Lehre aus der Geschichte. Die historisch korrekte Feststellung über das von außen erfolgte Niederringen des Naziimperialismus musste, um aus ihr eine überhistorische Lehre zu machen, inhaltlich entleert werden. Die jeweiligen aktuellen konflikthaften Antagonisten werden stets in die Rolle der faschistischen deutschen oder der Opfergruppen des Faschismus gepackt. 1991 wurde Israel, das sich einer realen Gefahr zu erwehren hätte, von den »linken« Bellizisten als bedrohte Heimstätte der Juden imaginiert. Die drohende Gefahr eines weiteren Holocaust war mit den Scud-Raketen, die Saddam Hussein gegen Israel schickte, alleine jedoch wenig glaubhaft. Das irakische Regime wurde einfach als dem deutschen Faschismus ähnlich behauptet.
Zentrale Figur dieses Bellizismus war ein prominenter Ex-68er, der als Intellektueller eine große Reichweite hatte. In einem Artikel von Hans Magnus Enzensberger im Spiegel 6/1991 wurde das Schlagwort von »Hitlers Wiedergänger« ausgegeben. Darin ist das Paradigma des Bellizismus geradezu prototypisch angelegt. Nicht minder modellhaft kommt darin der Kern linker, »antifaschistischer« Geschichtsrevision wie des Proimperialismus zum Vorschein, wie der linke Frankfurter Publizist Wolf Wetzel feststellte:
»Saddam Hussein wurde zum ›genuinen Nachfolger‹ Hitlers ernannt. In den ›Millionen von Arabern‹ entdeckte (Enzensberger) die Millionen von Deutschen, die Hitler bedingungslos und blind zujubelten. Die republikanischen Garden wurden zur Nachfolgeorganisation der SS/SA erklärt und der Überfall auf Kuwait reihte sich schließlich nahtlos in den Überfall der deutschen Reichswehr auf Polen 1939 ein. Um den deutschen Faschismus exportfähig zu machen, mußte er in Serie gehen: ›Hitler war nicht einzigartig. Solange Millionen von Menschen seine Wiederkehr leidenschaftlich herbeisehen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis dieser Wunsch in Erfüllung geht.‹ Zumindest Enzensberger hat sich diesen Wunsch erfüllt – in der Gestalt ›Saddam Husseins als einen Nachfolger Hitlers‹. Und auch bei der ›Frage der Zeit‹ hielt sich Enzensberger streng an mitteleuropäische Zeitrechnung. Nicht etwa 1980, als das irakische Militär den Iran überfiel, einen Krieg, den der Westen mit Waffen, Giftgas und politischer Rückendeckung unterstützte und über 1.000.000 Menschen das Leben kostete. Nein, Enzensberger und andere Bellizisten entdeckten Saddam als ›Hitlers Wiedergänger‹ 1990« – als man in der »freien Welt« genau diese ideologisierte Diskursfolie benötigte.
Ein französisches Produkt
In Gestalt der »Neuen Philosophen« hatte sich bereits seit den 1980er Jahren ein spezifisch antitotalitärer Bellizismus in Frankreich durchgesetzt, den kaum eine Person so prototypisch verkörpert wie André Glucksmann, der der maoistischen Linken der späten Phase der 68er entstammte.
Er war Vordenker eines neuen ideologischen Gesamtkonstrukts bezüglich der Trias von Antitotalitarismus, humanitärer Hilfe und NATO. Die Originalität von Glucksmann und seinen Mitstreitern bestand nicht darin, renegatenhaft Thesen der politischen Rechten zu formulieren, sondern in der öffentlichkeitswirksamen Nutzung der Medien, die ihnen das mit Stolz getragene Etikett der »Medienintellektuellen« eintrug. Das Engagement für Menschenrechte konzentrierte sich auf das Anklagen der Folgen der »totalitären«, ergo: stalinistischen Regime, was konform ging mit der selektiven, antikommunistischen Menschenrechtspolitik der USA unter der Reagan-Administration. Berühmt wurden die Bilder der »Boatpeople«, die nach dem Sieg der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams (»Vietcong«) aus Vietnam flüchteten, aber auch Glucksmanns leidenschaftlicher Kampf gegen die Tschetschenien-Politik Russlands oder die Reise seines ideologischen Kampfgefährten Bernard-Henri Lévy zu den Mudschaheddin im Kampf gegen die sowjetische Armee während des Afghanistan-Krieges.
1983 veröffentlichte Glucksmann seine gegen die Friedensbewegung gerichtete Streitschrift »Die Philosophie der Abschreckung« mit dem militanten Bekenntnis: »Wenn man antitotalitär ist, kann man nicht pazifistisch sein.« »Realistisch« und illusionslos wird herausgestellt, dass die Philosophie den Krieg zuweilen als Schrittmacherin der Kultur begriffen hat, auch Kants republikanischer Frieden – zentraler Bezugspunkt für die Verfechter einer »Weltbürgergesellschaft« – sei bewaffnet.
Gilles Deleuze antizipierte bereits in den frühen 1980er Jahren die Auseinandersetzung in Frankreich zwischen pazifistischen und bellizistischen Kräften. Unter positiver Bezugnahme auf den neomarxistischen Historiker Edward P. Thompson und dessen »Utopie der Abrüstung« lehnte Deleuze den fundamentalistischen Bellizismus im antitotalitären Gewandt ab: »Zwar haben wir in Frankreich nach 1968 keine Terroristen gehabt, aber wir haben unsere Büßer und Fundamentalisten. Man beschuldigt den Pazifismus sogar, der heutige Weg des Antisemitismus zu sein. (…) Die Argumentation ist verschroben: 1. Auschwitz ist das absolut Böse; 2. der Gulag ist das absolut Böse; 3. da zwei ›absolute Böse‹ schon zuviel sind, sind der Gulag und Auschwitz ein und dasselbe; 4. die Gefahr eines Atomkriegs ist der schwindelerregende Gedanke, die Möglichkeiten eines weltweiten Hiroshima der Preis, den man zahlen muß, damit es kein Auschwitz mehr gibt und wir den Gulag vermeiden.«
Damit hat Deleuze die Ideologie des französischen Bellizismus gut auf den Punkt gebracht. Im Kern lief Glucksmanns Argumentation auf eine Rechtfertigung einer gegen die UdSSR gerichteten Abschreckungs- und Aufrüstungspolitik hinaus. Die Tradition eines pazifistischen oder antimilitaristischen Antifaschismus sollte zugunsten eines militanten und notfalls militärischen Antitotalitarismus des Westens verworfen werden.
Auch Glucksmanns 1998 erschienenes Buch »Krieg um den Frieden«, eine Art antitotalitäres Manifest der humanitären Intervention, dreht sich zentral um den Krieg und macht in einem eher philosophisch orientierten Ansatz auf den neuartigen Charakter der militärischen Konflikte aufmerksam, die sich nicht mehr zwischenstaatlich, sondern innerhalb eines Staates ereignen und später unter dem Begriff »Neue Kriege« im wissenschaftlichen Kanon etabliert wurden.
Die Neuartigkeit des totalen Krieges besteht für Glucksmann nicht in der totalen Mobilisierung von Menschenmaterial und Ressourcen oder in der totalen Vernichtung des militärischen Gegners, sondern liegt darin begründet, dass der Krieg total für die Opfer wird: »Der totale Krieg beansprucht jenseits des Üblichen die moralische Macht, höchste Werte festzulegen. Er nimmt sich die ›maßlose‹ Macht, die Schöpfung auszulöschen, um sie neu zu beginnen. In übermenschlicher Weise, behauptet er, Zugang zur göttlichen Allmacht über Leben und Tod zu haben, das Dasein und den Sinn vernichten und dann ex nihilo etwas Neues schaffen zu können.« Allen totalitären Parteien sei die Verherrlichung des Krieges, der zu einer mythisch-messianischen Endschlacht stilisiert wird, gemeinsam – »der entscheidende Krieg, die Apokalypse, die wütet, um zu erneuern, und die die gesamte Erde verbrennen würde, damit endlich das rassische, sozialistische oder himmlische Jerusalem vom Himmel herabsteige«.
Glucksmann spricht von einer Gewalt, die Selbstzweck ist, ohne zu reflektieren, in welchen Regionen und auf welchem Hintergrund diese »Neuen Kriege« stattfinden. So subsumiert er den Völkermord in Ruanda, die gewaltsame Auflösung der Republik Jugoslawien, den Israel-Palästina-Konflikt, den russischen Krieg gegen Tschetschenien und die islamistischen Gotteskrieger der FIS in Algerien alle unter den Begriff des »totalen Krieges«. Jegliche Verbindung zum Zustand des kapitalistischen Weltsystems, warum jener »neue« Typus der Gewalt durchaus in einem ökonomischen Kontext zu sehen ist, jede Reflexion auf eine Verbindung zu kolonialen, postkolonialen und imperialistischen Strukturen wird unter dem von ihm entworfenen apokalyptischen Szenario erstickt. Die Ursachen von Gewalt und Massenmord bleiben ausgeklammert und auf eine negative Anthropologie reduziert, die totalitäre Gewalt erscheint als ursprungsloses Phänomen. Zurück bleibt ein existentialistischer Bellizismus: »Europa und Frankreich in Europa werden durch Abschreckung sein oder sie werden nicht sein.«
»Rot-grüne« Kriegstreiberei
Die beschriebenen rhetorischen Muster dieses Bellizismus hatten eine folgenschwere Rolle angesichts der jugoslawischen Zerfallskriege ab 1995 und dem ersten deutschen Kriegseintritt nach dem Zweiten Weltkrieg – ausgerechnet gegen Serbien. Der »grüne« Außenminister Joschka Fischer argumentierte, dass man es bei dem serbischen Staatsmann Milošević mit einer prototypischen neuen faschistischen Kraft zu tun habe. Angesichts der realen Massaker und »ethnischen Säuberungen« müsse man in Bosnien ein neues Auschwitz verhindern. Die Verhinderung eines »Kosovocaust« wurde 1999 zur »rot-grünen« Kriegslegitimation der Bundesregierung. Doch exekutierte die prowestliche Regierung unter Gerhard Schröder, die sich vollends der NATO-Logik unterstellte, nicht einfach das, was die bellizistischen Linken bereits zu Golfkriegszeiten forderten? Hatten letztere Saddam zu Hitler erklärt, war es Milošević für erstere. In den moralisch-historisierenden Attacken auf die Friedensbewegung argumentierten sie in gleicher Weise.
Bei den Grünen war dieser außenpolitische Schwenk nach rechts bedeutungsvoll, weil sie sich damals noch als pazifistische Partei begriffen. Es ging den Parteioberen darum, ihre Mitglied- und Wählerschaft propagandistisch auf Linie zu bringen. Von Beginn an waren zwar nach Umfragen 40 Prozent der deutschen Bevölkerung gegen eine deutsche Einmischung auf dem Balkan, aber der reale Verlauf des langanhaltenden Bürgerkrieges und die moralischen Kriegsbegründungen durch SPD-Verteidigungsminister Rudolf Scharping und den ehemaligen autonomen Sponti Joschka Fischer rieben nicht nur das »grüne« Milieu, sondern auch das mit SPD und Grünen stets verbundene Milieu der Friedensbewegung auf. Die rasche Remilitarisierung deutscher Außenpolitik brachte daher keine nennenswerte Friedensbewegung auf die Straße, es gab nur einzelne Störaktionen von kritischen Geistern.
Der vermeintliche »Antifaschismus« der Bundesregierung diente dem Anschluss an einen humanitär begründeten Imperialismus, die Entsorgung deutscher Geschichte war dabei ein Kollateralnutzen. Das historisch einmalige Verbrechen Auschwitz wurde propagandistisch nach Jugoslawien verlegt, das nun zum dritten Mal in der Geschichte von deutschen Soldaten beschossen wurde. Kanzler Schröder meinte, dass »die historische Verantwortung, die Deutschland hat, uns auch auferlegt, den Massenmorden, wie wir sie in Bosnien erlebt haben, mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln zuvorzukommen«. Dabei sah sich das souveräne Deutschland als verspäteter Verbündeter der Antihitlerkoalition. Kriegsminister Scharping meinte, dass »wir ja auch nicht aus eigener Kraft fähig gewesen sind, uns vom Hitlerfaschismus zu befreien«.
Diese spezifischen deutschen »Lehren aus der Vergangenheit« wurden bereits vor den NATO-Bombardierungen der bosnischen Serben im August 1995 gezogen; Freimut Duve von der SPD fühlte sich in der Zeit berufen, einen Artikel mit der Überschrift »An der Rampe in Srebrenica« zu veröffentlichen. Tatsächlich begangen die bosnisch-serbischen Milizen in der Traditionslinie der ultranationalistischen Tschetniks Massenverbrechen wie in der bosnischen Stadt Srebrenica, die heute als Völkermord angesehen werden. Doch das Gerede vom »serbischen Faschismus« diente innenpolitisch der Geschichtsrevision, und außenpolitisch wurde es Usus, mit den Opfern, die man im letzten großen deutschen Krieg produziert hat, zu begründen, nun wieder Kriege führen zu müssen – oder, wie aktuell angesichts des genozidalen Kriegs Israels gegen die Palästinenser in Gaza, Kriege ideologisch und materiell zu unterstützen. Es gibt gute Gründe dafür, den nicht durch die UNO legitimierten Krieg gegen Restjugoslawien als Geburtsstunde des aktuell grassierenden Völkerrechtsnihilismus anzusehen.
Deutsche Diskurse
Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine erhob sich ein erneuter Promilitarismus und Bellizismus. Die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine müsse gestärkt und die Kriegsfähigkeit Russlands maximal geschwächt werden, so lautete die neue diskursive Leitlinie. Man müsse erkennen, dass »wir« bereits im Krieg mit Russland stünden. Nicht nur die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands, sondern die Kriegsfähigkeit sei geboten. Wer quer steht und kritische Fragen stellt, sei »Lumpenpazifist«. Der Lobbyismus der Kriegsbegeisterten ist gut ausgebaut, ihr Zugang zu den Medien garantiert, ihre Verschränkung mit Profitinteressen der Rüstungsindustrie dokumentiert.
Dieser Lobbyismus wirkt in diversen Milieus, seine Vertreter haben Zugang zu den großen Polittalkshows, bewegen sich allerdings auch in linken (Sub-)Kulturen. Als gesinnungsethische Bellizisten aus der Linken haben sie zuweilen eine vielsagende Biographie. So gibt es traditionell antisowjetisch eingestellte Kämpfer wie den Ex-Grünen Ralf Fücks oder den Historiker Karl Schlögel, die ihren Maoismus aus den 1970er Jahren, der bereits der Sowjetunion einen Imperialismus andichtete, der genauso bedrohlich wie der faschistische sei, dem Geist des aggressiven Neoliberalismus angepasst haben. Es sind prowestliche Bellizisten wie Deniz Yücel, die bereits als »Linke« den Afghanistan-Krieg 2001 und den Irak-Krieg 2003 legitimierten, bevor sie aus dem poplinks-»antideutschen« Dschungel in die Redaktionsstuben der Welt eintreten durften. Yüzel steht für einen hedonistischen Kriegskurs, den »Antideutsche« wie er nach dem 11. September 2001 im schnippischen Gestus auf die Parole »Fanta statt Fatwa« brachten. Der Goebbelsche Idiotenbegriff der »Lumpenpazifisten« wurde vom rabiaten Diskurspunk Sascha Lobo, Kolumnist des Spiegel, aufgegriffen. Natürlich darf auch ein Henryk M. Broder nicht fehlen, der den hiesigen Verfechtern einer Antikriegsposition nichts geringeres als Streben nach Revanche für die Niederlage der Nazis im Zweiten Weltkrieg unterstellte. Die »Ablehnung dieses Krieges« – er meinte die Ablehnung der militärischen Unterstützung der Ukraine – hätte etwas zu tun mit dem Krieg, der 1945 gewonnen wurde. Diesen psychologistischen Quatsch und diese Unterstellungen kennt man schon von Wolfgang Pohrt und Eike Geisel. Auch deren Biograph Klaus Bittermann will an der Ideologie festhalten, die Friedensbewegung wäre nur »ewiger Ausdruck deutscher Ideologie«, wandele »eigentlich« auf deutsch-faschistischen Wegen. Mehr noch: Der umtriebige Verleger Klaus Bittermann hat neoliberale Kürzungsvorschläge. Deutschland könne sich eben eine Friedensbewegung noch leisten, sagte er im April 2022 in einem Gespräch mit der Taz; weg damit, meinte er.
Auch wenn man auf den tief empfundenen Antifaschismus vieler Friedensfreunde verweisen würde – in Broders und Bittermanns Augen sind diese Leute alles nur schlimme kommunistische Putinversteher. Die Demagogie schert sich nicht um Konsistenz. Oder sollte man versuchen, eine ernsthafte Debatte mit den exlinken Bellizisten anzustrengen, über die so traurige wie gefährliche deutsche Tradition, in der Verächtlichmachung der Pazifisten und glühender Antisemitismus oft Hand in Hand gingen? Nach allem, was man beispielsweise von Broder jahrelang lesen konnte, scheint er schon längst an den reaktionären Diskurs über den angeblich verweichlichten, weibischen oder wohlstandsverwahrlosten Pazifismus anzuknüpfen.
Alles für die Staatsräson
Es sind nicht nur die alten Bekannten des deutschen Bellizismus, die sich in die »andere Querfront« des westlichen Propagandakriegs einreihen, es sind auch die alten »Argumente« und Schlagworte, die sie bedienen: Appeasement-Politik dürfe es nicht geben, die Friedensbewegung sei antiamerikanisch motiviert, Deutschland dürfe historisch nie wieder Sonderwege beschreiten, sondern müsse mit dem Westen zusammen Krieg führen, weltfremde Gesinnungsethik herrsche nur bei den Pazifisten vor. Dabei ist es ihr eigener, politischer Moralismus, der nicht nur über jede sachlich-nüchterne Urteile, sondern auch über jede kritische Frage autoritär hinweggeht und in Kriegs- und Krisenzeiten einen passenden ideologischen Überbau bereitstellt.
Vom Genozid der teilweise rechtsextremen israelischen Regierung an der Bevölkerung Gazas, von israelischen Kriegsverbrechen, Völkerrechtsbrüchen und Verbrechen gegen die Menschheit schweigen die proimperialistischen Bellizisten. Der Wirtschaftsminister derAmpelkoalition, Robert Habeck, und die Exaußenministerin Annalena Baerbock (beide Bündnis 90/Die Grünen) verwiesen sogar auf ihre Herkunft aus deutschen Nazitäterfamilien, um im Modus der »Staatsräson« ihr besonderes solidarisches Verhältnis zu Israel zu betonen. Gerne wird die Hamas zur genozidalen Kraft erklärt und der 7. Oktober, also der Ausbruch aus Gaza ins israelische Kernland, und die Massaker durch die fundamentalistischen Kassam-Milizen und andere bewaffnete Verbände werden zum kontextlosen Pogrom an Juden ohne jede Vorgeschichte. Damit ist die Folie des prowestlichen Bellizismus und der Imperialismuslegitimation wieder gekittet und der Westen ist in seiner militärischen Unterstützung des als Opferstaat imaginierten Israel ins moralische Recht gesetzt.
Es könnte sein, dass wir uns in einer neuen Phase des ungeschminkt aggressiven Imperialismus befinden beziehungsweise in diese übergehen. Der amtierende Kanzler Friedrich Merz findet mit seiner »Drecksarbeit«-Sprache bereits souverän Anschluss an die Tonlage, die jenseits des Atlantik angeschlagen wird. Vielleicht werden in den neuen Kriegsgesellschaften des Westens Interessen bemäntelnde Ideologien überflüssig. Der Bellizismus, der das kriegerische Anliegen stets idealistisch präsentieren musste, könnte dann einem neuen rohen Materialismus, sprich: »ehrlichem« Imperialismus weichen. Ein solcher kann auch von der ehemaligen Idealistenpartei par excellence, den Grünen, ausgehen, die mit ihrem Sprecher Anton Hofreiter ja bereits ein »robustes Vorgehen« gegen China – mit dem Colt auf dem Tisch – vorschlugen.
Gerhard Hanloser schrieb an dieser Stelle zuletzt am 14. Juni 2025 über die staatlich gelenkte Erinnerungspolitik: »Erinnern heißt kämpfen«
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Leserbrief von Henri Wehenkel aus Rameldange (12. August 2025 um 10:49 Uhr)Vielen Dank für den Beitrag von Herrn Hanloser. Wir sind hier in Luxemburg von einer Flut von neudeutschen, antideutschen Kulturträgern betroffen, die uns unbedingt in die Kollektivschuld einbeziehen und zu einem kritiklosen Israel-Bekenntnis drängen möchten. Das alles erinnert an die Hexenjagd des Kalten Krieges (mit Totalitarismusbegriff und Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung) und an den ethnischen Volksbegriff aus der Mottenkiste des 19. Jahrhunderts. Die Verbindung zu den »Neuen Philosophen« aus Frankreich scheint mir sinnvoll. Daniel Cohn-Bendit hat darauf in seinem letzten Buch hingewiesen und sich selbst als Verbindungsmann zwischen Glucksmann und Fischer ins Gespräch gebracht. Sehr aktuell, denn Glucksmanns Sohn hat nun die Nachfolge des Vaters angetreten. Es fehlt höchstens eine Erwähnung von Gremlizas Rolle als Herausgeber von »Konkret«. Waren in diesem Fall nur ideengeschichtliche Gründe ausschlaggebend? Ich warte auf die Fortsetzung. Henri Wehenkel, Luxemburg
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Wolfgang S. aus Berlin-Mariendorf (8. August 2025 um 09:10 Uhr)Diese »Linken«, die sich in ihren Slogans denen von Rheinmetall anschließen, die meinen mit mehr Rüstung »unsere« Freiheit und die uns teure, aber immer mehr einseitig eingeschränkte, Meinungsfreiheit zu verteidigen, sollten mal lieber Lenins »Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« lesen, um den Zusammenhang von Kapitalismus, Aufrüstung und Krieg zu erkennen und hoffentlich zu begreifen. Dann werden sie erkennen, wo die Ursachen für Krieg und Aufrüstung liegt, wer die wirklichen Massenmörder sind und wie das alles den Lebensinteressen der Bürger und Völker widerspricht. Und hier ist es neuerdings exponiert Deutschland, die das tun bzw. unterstützen. Diese Unklarheit bei den Linken macht es mir immer schwer, diese auch zu wählen.
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