Gegründet 1947 Montag, 8. September 2025, Nr. 208
Die junge Welt wird von 3036 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 05.09.2025, Seite 5 / Inland
Gesundheitspolitik

»Lügenkampagne« gegen Sozialstaat

Kapitalvertreter greifen öffentliche Gesundheitsfürsorge weiter an. Linke setzt dem Fakten entgegen
Von Luca von Ludwig
Aerztliche_Bereitsch_85413857.jpg
Bekommen Lobbyverbände ihren Willen, muss vor dem Gang zum Arzt demnächst das Sparschwein geplündert werden

Vieles kostet mehr – aber nicht unbedingt so, wie man denkt. Tatsächlich sind die Sozialausgaben der Bundesrepublik seit dem Jahr 2000 in absoluten Zahlen deutlich gestiegen. Gemessen an der Wirtschaftsleistung legten sie allerdings nicht zu. Wie eine am Donnerstag bekanntgewordene Anfrage des Linke-Abgeordneten Dietmar Bartsch beim Statistischen Bundesamt ergab, wandte der deutsche Staat 2024 5,53 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für die soziale Sicherung auf. Im Jahr 2000 waren es noch 5,63 Prozent gewesen, also sogar geringfügig mehr. Hintergrund der Anfrage waren die jüngsten Debatten um die Finanzierbarkeit staatlicher Sozialleistungen.

»Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar«, hatte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) die Debatte über Kosten des Sozialsystems eingeleitet. Bartsch warf Merz in Hinblick auf die offiziellen Daten nun vor, »de facto eine Lügenkampagne gegen den Sozialstaat« zu fahren. Denn seit der Jahrtausendwende nahmen Aufwendungen für Sozialsysteme zwar drastisch zu, ergab die Anfrage. Nur hat sich das BIP im Beobachtungszeitraum mehr als verdoppelt. Und werden die Ausgaben für Renten-, Gesundheits- und Pflegeversicherung mit einbezogen, liegt die Quote zur Zeit bei etwa 30 Prozent des BIP, fünf Prozentpunkte über der von 1991.

Schützenhilfe bekommt der Kanzler bei seinem Angriff auf die soziale Sicherung hinlänglich. Besonders am Gesundheitssystem soll gespart werden, wenn es nach Vertretern der Kapitalseite geht. Steffen Kampeter, Geschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA), regte kürzlich an, die Zahl der Arztbesuche durch eine »Kontaktgebühr« zu begrenzen. Patienten würden in diesem Modell bei jedem Praxisbesuch zur Kasse gebeten, was vor allem Menschen mit langfristigen und chronischen Erkrankungen teuer zu stehen kommen dürfte. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) kritisierte zudem, dass durch die so erhöhte Hemmschwelle Erkrankungen unnötig verschleppt und in der Folge noch höhere Behandlungskosten verursachen würden.

Noch drastischer kommt ein Anfang September geäußerter Vorschlag des Geschäftsführers des Unternehmerverbandes Niedersachsenmetall, Volker Schmidt, daher: Patienten sollten künftig die Kosten für medizinische Behandlungen selbst auslegen und erst später von ihrer Krankenkasse erstattet bekommen. »Kein gesetzlich Versicherter erfährt heute, was ein Arztbesuch oder Medikamente kosten«, so der Lobbyist. Patienten sollten ein »Kostenbewusstsein« für ihre Gesundheit entwickeln und sich demnächst dreimal überlegen, wegen »jeder Kleinigkeit« zum Arzt zu gehen. Was passieren soll, wenn sich jemand die Vorkasse, etwa für eine Operation, nicht leisten kann, ließ Schmidt offen.

»Die von ihm wie selbstverständlich angenommene – äußerst fragwürdige – Voraussetzung ist, dass Patienten das System nur deshalb in Anspruch nähmen, weil es nichts koste«, kritisiert Nadja Rakowitz vom Verein Demokratischer Ärzt:innen (VDÄÄ) den Vorstoß am Donnerstag. Zudem würde solch ein System zu einem bedeutenden bürokratischen Mehraufwand führen, bemängeln VDÄÄ und Krankenkassen. Rakowitz gab in einer Mitteilung des Vereins zu bedenken, dass es bei einem derartigen Rückzahlungssystem zu neuen Schlupflöchern kommen könnte – und Patienten auf Kosten sitzenbleiben.

Der Koalitionsausschuss hatte sich am Mittwoch abend darauf geeinigt, die Beiträge für Pflege- und Krankenversicherungen zum Jahr 2026 nicht zu erhöhen. Anfang Juli hatte Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) noch erklärt, 2026 mit einem Anstieg des Zusatzbeitrages der Kassen in der Gesetzlichen Krankenversicherung zu rechnen. Offen ist aber noch, wie die Beiträge auf dem bisherigen Niveau gehalten werden sollen. In den vergangenen Tagen hatten die Kassen mehrfach auf Reformmaßnahmen, zum Beispiel bei der Besteuerung von Arzneimitteln, gedrängt, um die Finanzierung aufrechtzuerhalten. Soll es keine Einsparungen bei den Leistungen geben, bliebe nur noch eine Erhöhung der Bundeszuschüsse.

75 für 75

Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.

 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Krise mit Risiken: Gesundwerden für Patienten immer weniger beza...
    29.07.2022

    Klamme Kassen

    Beiträge zur Sozialversicherung dürften auf 40 Prozent des Bruttoeinkommens steigen. Leistungskürzungen folgen womöglich trotzdem

                                                                 Aktionsabo: 75 Ausgaben für 75 Euro