»Lügenkampagne« gegen Sozialstaat
Von Luca von Ludwig
Vieles kostet mehr – aber nicht unbedingt so, wie man denkt. Tatsächlich sind die Sozialausgaben der Bundesrepublik seit dem Jahr 2000 in absoluten Zahlen deutlich gestiegen. Gemessen an der Wirtschaftsleistung legten sie allerdings nicht zu. Wie eine am Donnerstag bekanntgewordene Anfrage des Linke-Abgeordneten Dietmar Bartsch beim Statistischen Bundesamt ergab, wandte der deutsche Staat 2024 5,53 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für die soziale Sicherung auf. Im Jahr 2000 waren es noch 5,63 Prozent gewesen, also sogar geringfügig mehr. Hintergrund der Anfrage waren die jüngsten Debatten um die Finanzierbarkeit staatlicher Sozialleistungen.
»Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar«, hatte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) die Debatte über Kosten des Sozialsystems eingeleitet. Bartsch warf Merz in Hinblick auf die offiziellen Daten nun vor, »de facto eine Lügenkampagne gegen den Sozialstaat« zu fahren. Denn seit der Jahrtausendwende nahmen Aufwendungen für Sozialsysteme zwar drastisch zu, ergab die Anfrage. Nur hat sich das BIP im Beobachtungszeitraum mehr als verdoppelt. Und werden die Ausgaben für Renten-, Gesundheits- und Pflegeversicherung mit einbezogen, liegt die Quote zur Zeit bei etwa 30 Prozent des BIP, fünf Prozentpunkte über der von 1991.
Schützenhilfe bekommt der Kanzler bei seinem Angriff auf die soziale Sicherung hinlänglich. Besonders am Gesundheitssystem soll gespart werden, wenn es nach Vertretern der Kapitalseite geht. Steffen Kampeter, Geschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA), regte kürzlich an, die Zahl der Arztbesuche durch eine »Kontaktgebühr« zu begrenzen. Patienten würden in diesem Modell bei jedem Praxisbesuch zur Kasse gebeten, was vor allem Menschen mit langfristigen und chronischen Erkrankungen teuer zu stehen kommen dürfte. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) kritisierte zudem, dass durch die so erhöhte Hemmschwelle Erkrankungen unnötig verschleppt und in der Folge noch höhere Behandlungskosten verursachen würden.
Noch drastischer kommt ein Anfang September geäußerter Vorschlag des Geschäftsführers des Unternehmerverbandes Niedersachsenmetall, Volker Schmidt, daher: Patienten sollten künftig die Kosten für medizinische Behandlungen selbst auslegen und erst später von ihrer Krankenkasse erstattet bekommen. »Kein gesetzlich Versicherter erfährt heute, was ein Arztbesuch oder Medikamente kosten«, so der Lobbyist. Patienten sollten ein »Kostenbewusstsein« für ihre Gesundheit entwickeln und sich demnächst dreimal überlegen, wegen »jeder Kleinigkeit« zum Arzt zu gehen. Was passieren soll, wenn sich jemand die Vorkasse, etwa für eine Operation, nicht leisten kann, ließ Schmidt offen.
»Die von ihm wie selbstverständlich angenommene – äußerst fragwürdige – Voraussetzung ist, dass Patienten das System nur deshalb in Anspruch nähmen, weil es nichts koste«, kritisiert Nadja Rakowitz vom Verein Demokratischer Ärzt:innen (VDÄÄ) den Vorstoß am Donnerstag. Zudem würde solch ein System zu einem bedeutenden bürokratischen Mehraufwand führen, bemängeln VDÄÄ und Krankenkassen. Rakowitz gab in einer Mitteilung des Vereins zu bedenken, dass es bei einem derartigen Rückzahlungssystem zu neuen Schlupflöchern kommen könnte – und Patienten auf Kosten sitzenbleiben.
Der Koalitionsausschuss hatte sich am Mittwoch abend darauf geeinigt, die Beiträge für Pflege- und Krankenversicherungen zum Jahr 2026 nicht zu erhöhen. Anfang Juli hatte Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) noch erklärt, 2026 mit einem Anstieg des Zusatzbeitrages der Kassen in der Gesetzlichen Krankenversicherung zu rechnen. Offen ist aber noch, wie die Beiträge auf dem bisherigen Niveau gehalten werden sollen. In den vergangenen Tagen hatten die Kassen mehrfach auf Reformmaßnahmen, zum Beispiel bei der Besteuerung von Arzneimitteln, gedrängt, um die Finanzierung aufrechtzuerhalten. Soll es keine Einsparungen bei den Leistungen geben, bliebe nur noch eine Erhöhung der Bundeszuschüsse.
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