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Aus: Ausgabe vom 03.09.2025, Seite 7 / Ausland
Serbien

Schweigend gegen Vučić

Erneut Proteste in Serbien. Präsident setzt auf vorgeblich soziale Konsumanreize
Von Roland Zschächner
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Mit stillem Protest: Schüler und Studenten geben keine Ruhe (Belgrad, 1.9.2025)

Dieses Mal schwiegen sie: Zehntausende Menschen haben am Montag in ganz Serbien bei Schweigemärschen der 16 Toten und Dutzenden Verletzten des Unglücks von Novi Sad gedacht. Dort stürzte vor genau zehn Monaten das Vordach des Bahnhofs herab. Die Tragödie war der Auslöser der größten Proteste in der jüngeren Geschichte Serbiens. Noch immer wird an die Opfer gedacht: Täglich versammeln sich Schüler und Studenten um 11.52 Uhr an öffentlichen Orten, um 16 Minuten lang zu schweigen.

Schweigen auch auf den von Schülern organisierten Kundgebungen am Montag. Wo sonst laut Slogans gerufen und in Trillerpfeifen geblasen wird, wurden nun 16 weiße Rosen mitgeführt und im Stillen gedacht. »Wir sind alle unter dem Vordach« lautete das Motto des größten Demonstrationszugs in Belgrad, der bis vor das Parlament im Zentrum der serbischen Hauptstadt zog. Die vorwiegend von Studierenden getragene Bewegung wendet sich gegen die im Land grassierende Korruption, die mutmaßlich eine Mitursache für den Zusammenbruch darstellt. Der Bahnhof war renoviert worden, die Aufträge dafür sowie die Dokumentation und Kontrolle der Bauarbeiten waren intransparent. Zwar wurden Verdächtige verhaftet und traten Politiker zurück, doch aufgeklärt wurde das Unglück bislang nicht.

In den vergangenen zehn Monaten ist die Bewegung zu einem Faktor in der serbischen Politik geworden. Im August schlugen die Proteste in Gewalt um, als Demonstranten vor die Büros der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) ziehen wollten. Dort wurden sie von Vermummten erwartet. Mehrere Tage kam es zu Zusammenstößen zwischen Anhängern der Bewegung einerseits sowie SNSlern und Einsatzkräften andererseits. Unterdessen beharren die Protestierenden auf vorgezogenen Neuwahlen. Zu diesen wollen die Studierenden, die basisdemokratisch in Plena entscheiden, mit einer eigenen Liste antreten. Diese sei fast vollständig fertig, wurde ein studentischer Vertreter von lokalen Medien zitiert. Auch die Opposition sieht in einer baldigen Abstimmung eine Lösung der Krise im Land.

Präsident und SNS-Gründer Aleksandar Vučić reagiert auf die zugespitzte Lage mit einem sozialpolitischen Kurs. Am 24. August verkündete er ein ganzes Paket an Maßnahmen, von denen viele am 1. September in Kraft traten. Im Mittelpunkt steht dabei die Deckelung der Preise von etwa 3.000 Produkten des täglichen Bedarfs. In Serbien ist wie in vielen europäischen Ländern in den vergangenen Monaten die Inflation stark gestiegen. Vučić macht dafür die Handelskonzerne verantwortlich. Deren Margen sollen nun auf maximal 20 Prozent begrenzt werden. Die Folge sollen fallende Preise sein. Der Staatschef kündigte zudem an: »Bis Ende des Jahres werden wir auch ein Gesetz zur Verhinderung unlauterer Handelspraktiken verabschieden, das unseren einheimischen Produzenten und Lieferanten helfen wird.« Wie dies aussehen soll, ließ er offen.

Vučić verkündete noch weitere Maßnahmen. So werde die Postsparkasse die Zinsen senken, damit ein weiterer Anreiz für Konsum gesetzt werde, so der Politiker über seine Pläne. Das Ziel sei, »der Mittelschicht zu helfen«. Zwar sei die Armutsquote in Serbien »auf dem niedrigsten Stand, aber es gibt immer noch Menschen, die arm sind, auch wenn ihre Zahl von Jahr zu Jahr abnimmt«, so der Präsident, dem laut Verfassung eigentlich eine vorwiegend repräsentative Rolle zukommt.

Es ist auch der Politik Vučićs zu verdanken, dass es im ländlichen Serbien und in der Arbeiterklasse viele Menschen gibt, die arm sind. Subventionen in der Landwirtschaft standen in den vergangenen Jahren immer wieder zur Disposition. Es war zudem der SNS-Politiker, der internationale Investoren mit dem Argument in das Balkanland lockte, dort stünden ihnen billige Arbeiter zur Verfügung. Statt auf höhere Löhne und eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung zu setzen, animiert Vučić nun die Menschen, zu konsumieren und sich zu verschulden.

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