Fluchthelfer wider Willen
Von Marc Bebenroth
Auch die perspektivisch »konventionell stärkste Armee Europas« (Friedrich Merz) kann nicht alles allein. In den von ihnen besetzten Regionen der Welt dürfte die Bundeswehr in Zukunft weiter auf lokale Zuarbeit durch Fahrer, Übersetzer und Kollaborateure angewiesen sein. So ist es im Interesse der BRD, nach einer Niederlage bzw. einem Rückzug der eigenen Truppen diesen sogenannten Ortskräften Schutz vor Rache und Verfolgung für ihre Dienste zumindest in Aussicht stellen zu können. Für 47 Afghaninnen und Afghanen hat sie dieses Versprechen am Montag erfüllt. 46 von ihnen sind am frühen Nachmittag an Bord einer Linienmaschine aus Pakistan am Flughafen Hannover-Langenhagen angekommen. Weil sie den Anschluss in Istanbul verpasst hatte, sollte eine Frau am Abend nachkommen, wie die Hilfsorganisation »Kabul Luftbrücke« mitteilte.
Gegenüber der Nachrichtenagentur dpa hatte eine der Afghaninnen vor dem Abflug in Islamabad gesagt, dass sie 14 Monate auf ihre Ausreise gewartet habe. Die Zeit in der pakistanischen Hauptstadt habe die Frau voller Sorge verbracht. Dort harren zahlreiche Menschen aus Afghanistan aus – unter anderem, weil die BRD in Afghanistan keine Botschaft unterhält. Die islamistischen Taliban benötigt die von der Union geführte Regierung zwar für Abschiebeabkommen. Sie will sie aber nicht offiziell als Regierung anerkennen. Nun freue sich die Frau auf ein Leben in Freiheit und Sicherheit, sagte sie der dpa.
Wie im Wahlkampf und später im Koalitionsvertrag mit der SPD von der Union angekündigt, hat die Bundesregierung das Aufnahmeprogramm für besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen im Mai zurückgefahren. Die Einreise der fast 50 Betroffenen am Montag konnte nur erfolgen, nachdem diese von deutschen Gerichten Recht bekommen hatten, teils erst in zweiter Instanz, sagte eine Sprecherin von »Kabul Luftbrücke« am Montag. In einigen Fällen habe das Auswärtige Amt keine Beschwerde gegen die Urteile eingelegt oder eine bereits eingelegte Beschwerde zurückgenommen. Nach Angaben der Hilfsorganisation waren die meisten der 47 Betroffenen in den Bereichen Politik, Justiz, Journalismus bzw. Medien tätig.
Eine am Montag veröffentlichte Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Berlin-Brandenburg dürfte die Ankunft weiterer Afghaninnen und Afghanen trotz rechtsverbindlicher Aufnahmezusage durch die BRD wieder ausbremsen. Nur weil diese Zusagen gegeben worden seien, ergebe sich daraus nicht automatisch die Pflicht, den Betroffenen auch Visa für die Einreise in die BRD auszustellen, urteilte demnach das Gericht mit seinem unanfechtbaren Beschluss. Die Visaentscheidung liege im politischen Ermessen der Bundesregierung.
In dem Fall geht es um einen früheren hochrangigen afghanischen Richter, seine Ehefrau und deren vier Kinder. Im Rahmen der sogenannten Überbrückungsliste war der Familie, die mittlerweile ebenfalls in Pakistan ausharrt, im Dezember 2022 vom Innenministerium die Bereitschaft zur Aufnahme erklärt worden. Das Auswärtige Amt verweigerte ihnen allerdings die im Februar 2023 beantragten Visa und begründete dies mit dem Verweis auf die insgesamt ausgesetzten Aufnahmeprogramme für Afghanistan.
Das westlich an Pakistan angrenzende und bis zur Rückkehr der Taliban an die Macht 20 Jahre lang von NATO-Truppen besetzte Land ist nicht nur erneut von einem für Hunderte Menschen tödlichen Erdbeben erschüttert worden. Zuletzt waren laut Angaben des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen mit 9,5 Millionen Menschen in Afghanistan rund 20 Prozent der Bevölkerung von Hunger bedroht. Das Auswärtige Amt geht nach Angaben vom Montag davon aus, dass noch rund 2.300 Afghaninnen und Afghanen auf Ausreise nach Deutschland warten. 2.100 von ihnen seien in Pakistan, der Rest in Afghanistan. Es gelte, »dass an einer Rückreise gearbeitet wird«, sagte ein Sprecher in Berlin.
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