Mehr als ein Gleiwitz
Von Arnold Schölzel
Am diesjährigen Antikriegstag befindet sich insbesondere Westeuropa in mehrfacher Hinsicht im Krieg mit Russland – auf dem Schlachtfeld in der Ukraine, wirtschaftlich und im Informationskrieg, im NATO-Jargon »kognitive Kriegführung«, gegen die Bevölkerungen in EU- und NATO-Staaten.
1939 sagten die deutschen Faschisten offen, worum es bei letzerem ging, so zum Beispiel Hitler am 22. August vor der Wehrmachtsführung: »Die Auslösung des Konfliktes wird durch geeignete Propaganda erfolgen. Die Glaubwürdigkeit ist dabei gleichgültig, im Sieg liegt das Recht.« Presse, Wochenschau und Rundfunk hatten damals mit Hetze gegen Polen Kriegstüchtigkeit hergestellt. Der angebliche polnische Überfall auf den Sender Gleiwitz war von SS-Geheimdienstchef Reinhard Heydrich organisiert. An der Aussage Hitlers vom 1. September 1939, seit 5.45 Uhr werde »zurückgeschossen«, stimmte nichts. Für die Marschrichtung Osten hatten insbesondere Großbritannien und Frankreich mit dem Münchner Abkommen 1938, mit dem sie die Tschechoslowakei auslieferten, grünes Licht gegeben und zugleich den Bemühungen der Sowjetunion, ein System gegenseitiger Sicherheit zu schaffen, eine Absage erteilt.
Heute regieren in der Bundesrepublik keine Neonazis, auch wenn der Bandera-Kult Kiews und analoge Erscheinungen in baltischen Staaten oder Italien hierzulande ihre Wirkung entfalten. Dort ist Faschismus faktisch rehabilitiert. Maßgaben des NATO-Kriegskonzepts, das auf eine Balkanisierung Russlands zielt, folgen die verantwortlichen Politiker hierzulande aber willig. Die antirussische Hetze hat mit Hilfe der Ukraine neue Höhen erreicht. Das mediale Beschweigen des Kriegs Kiews gegen die Ostukraine seit 2014, die Behauptung, erst mit dem russischen Angriff am 24. Februar 2022 habe überhaupt ein Krieg begonnen, und die Leugnung, dass im März/April 2022 dessen Beendigung möglich war, sind von Dauer und Ausmaßen her eine beachtlich größere »Informationsoperation« als der »Überfall auf den Sender Gleiwitz«. An den harten militärischen Fakten ändert die Propaganda nichts.
Für Deutschland bleibt, wie der SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi und General a. d. Erich Vad soeben im gemeinsamen Buch »Krieg oder Frieden – Deutschland vor der Entscheidung« festgehalten haben, jeder europäische Krieg existentiell: Es ist NATO-Drehscheibe und wird Schlachtfeld. Wer hier neuartige US-Raketen gegen Russland stationieren will, ist ein verantwortungsloser Abenteurer. Eskalation ist programmiert: Bis Ende des Jahres sollen in Belarus russische »Oreschnik«-Raketen stationiert werden, die von dort in wenigen Minuten Ziele in Deutschland erreichen. Die Behauptung von Friedrich Merz im ZDF am Sonntag, wenn die Ukraine kapituliere, »dann sind übermorgen wir dran«, nähert sich dem »Zurückschießen« sehr an. Höchste Zeit, dem ein Ende zu setzen.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (1. September 2025 um 11:09 Uhr)Friedensgedanken am Antikriegstag 1945 wie 1989 boten die Chance auf eine neue europäische Friedensordnung – beide Male wurden sie vertan. Statt Partnerschaft mit Moskau setzten die USA auf Dominanz über Westeuropa und erklärten die Sowjetunion bzw. Russland zum Gegner. Stalins Vorschlag eines neutralen Mitteleuropas mit einem geeigneten Deutschland wurde ebenso abgelehnt wie Gorbatschows Angebot eines »gemeinsamen Hauses Europa«. Zwar gewann der Westen den ideologischen Kampf gegen den Kommunismus, doch ein echter Friede mit Russland war nie gewollt. Die Zusagen »keine NATO-Osterweiterung« blieben Makulatur, stattdessen nutzte der Westen Russlands Schwäche der 1990er Jahre, um Einflusszonen auszubauen. Bis heute verweigert man Moskau die Rolle eines gleichberechtigten Partners. Doch Europas Zukunft hängt nicht an Hegemonie, sondern an Kooperation. Ohne Russland wird es keinen dauerhaften Frieden geben – und wer dies leugnet, arbeitet nicht für Sicherheit, sondern für den nächsten Krieg.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (1. September 2025 um 09:20 Uhr)»Für Deutschland bleibt, wie der SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi und General a. d. Erich Vad soeben im gemeinsamen Buch ›Krieg oder Frieden – Deutschland vor der Entscheidung‹ festgehalten haben, jeder europäische Krieg existentiell: Es ist NATO-Drehscheibe und wird Schlachtfeld«. Zum einen erscheint hier Deutschland nicht als Kriegstreiber, sondern lediglich als NATO-Drehscheibe und Schlachtfeld, als Opfer in einem künftigen Krieg. Erich Vad wird hier quasi als Friedenskämpfer vorgestellt. Dieser Wolf im Schafspelz geißelte im März 2022 den »deutschen Strukturpazifismus«, der für die »Vernachlässigung der Bundeswehr wesentlich verantwortlich« sei, auch müsse man mittelfristig über die Wehrpflicht neu nachdenken (NZZ 02.03.2022/Wikipedia-Artikel Erich Vad). Auch in einem Interview mit den Nachdenkseiten vom 17. März 2025 Vad ganz im Sinne der Bundesregierung: »Betrachten wir die Bundeswehr: Sie ist in einem desolaten Zustand (…) Der Forderung, dass wir mehr für unsere Verteidigung tun sollten, was die USA berechtigterweise seit Langem verlangen, schließe ich mich an. (…) Wir müssen so stark sein, dass keiner es wagt, uns anzugreifen – und das sind wir im Moment nicht. Daran müssen wir arbeiten, deshalb halte ich das für richtig.« Auf einer Telepolis-Veranstaltung im Mai 2025 sagte er zum Thema US-Mittelstreckenraketen in Deutschland: »Also, wenn wir Raketen aufstellen, dann machen wir es selber. Und dann haben wir auch selber die Verfügungsgewalt«.
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