Eine Pilgerreise für alle
Von Hassan Al Askari, Kerbela
Speisen und Getränke werden auf den Straßen verteilt. Bei 50 Grad Celsius düst ein älterer Mann mit seinem E-Rollstuhl und einem Krug Saft vorbei an einem Soldaten, der Tee ausschenkt, und einem Jugendlichen, der anbietet, mit seiner Nähmaschine Schuhe und Taschen zu flicken. Niemand erwartet eine Gegenleistung, denn es ist Arbain, der islamische Trauertag, an dem im Irak die größte jährliche Pilgerreise stattfindet. Das ist allerdings international kaum bekannt.
Dieses Jahr fiel Arbain auf den Abend des 14. August, also Donnerstag. Jedes Jahr ist es ein globales Ereignis, das Menschen unterschiedlicher Hintergründe vereint, wandern mehr als 20 Millionen Pilger zu Fuß in die Stadt Kerbela. Dort befindet sich der Schrein des Märtyrers Hussein ibn Ali, Enkel des Propheten Muhammed, Dritter Imam im Schiitentum und eine angesehene Person auch im Sunnitentum. Auf dem Weg versorgt man die Reisenden. Manche flehen sie geradezu an, sie beherbergen und ihre Wäsche waschen zu dürfen. Die Pilger gelten als Gäste Husseins, die zu empfangen eine große Ehre ist. Für Gebrechlichere bieten Sanitäter des Roten Halbmondes, Partner des Roten Kreuzes, medizinische Versorgung und Medikamente an. Selbst Massagen werden entlang der Route angeboten.
Menschen aus aller Welt sind angereist: Es wehen die Flaggen Iraks und Irans, viele weitere aus mehrheitlich muslimischen Ländern, etwa jene Palästinas, aber auch welche, die überraschen, so aus Japan, Ghana und allerlei Ländern Europas. Obwohl der Marsch ein islamisches Ritual ist, laufen Andersgläubige und Irreligiöse mit. Christen schließen sich dem Strom von Pilgern an, unter ihnen Priester, die den Muslimen Beileid zum Martyrium ihres Imams bekunden. »Sogar nach seinem Tod bleibt er ein Zeichen für Gerechtigkeit. In der heutigen Welt ist er um so wichtiger, da er uns alle vereint«, so der georgische Bischof Malkhaz Songulashvili. Er teile die Werte Imam Husseins: Ablehnung von Unterdrückung. 2022 waren die Enkel von Nelson Mandela und Mahatma Gandhi in Kerbela. »Imam Hussein ist für alle Menschen«, erzählt ein freiwilliger Helfer.
Laut Überlieferung war es das Jahr 680, als Hussein mit seiner Familie, darunter ein Säugling, getötet wurde. Mit wenigen Gefährten durchquerten sie damals die Wüste, als der Kalif Jasid eine Armee schickte, um den Imam zu stellen und gewaltsam zum Treueeid zu zwingen. Die Treue des Enkels des islamischen Propheten würde seine Herrschaft sichern, dachte er. Doch der Imam weigerte sich, einen Tyrannen als Herrscher anzuerkennen. So kam es zur Schlacht von Kerbela: Seinem Lager wurde der Zugang zum Wasser des Euphrats verwehrt, bevor man Hussein und dessen Gefolge massakrierte. Arbain markiert den 40. Tag nach dessen Tod, als die ersten Besucher, darunter einige, die die Schlacht überlebt hatten, in Kerbela eintrafen.
Ihnen zu Ehren laufen heute mehr Besucher denn je die 80 Kilometer von der Stadt Nadschaf aus, wo der Vater des Imams, Ali ibn Abi Talib, ruht. Pilger, die im Irak leben, starten in der Regel aus ihren jeweiligen Städten und sind dann bis zu zehn Tage, teils länger, unterwegs. Alle sind fest entschlossen, diese Tage zu ehren, egal welche Hürden sich ihnen in den Weg stellen. Des Martyriums so zu gedenken, war nicht immer möglich. Unter Saddam Hussein war der Marsch verboten, wurden jene, die es dennoch versuchten, verfolgt und gefoltert. Einer von ihnen, ein inzwischen älterer Herr mit Beinprothese, empfängt heute Pilger in seinem Haus: »Meine Familie und ich kommen nicht aus Kerbela, aber wir haben ein Haus hier, extra um Gäste zu empfangen.«
Jahrzehntelang musste der Irak Kriege durchstehen. Unter diesen hat nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die Infrastruktur für Strom und Wasser gelitten. Stromausfälle sind keine Seltenheit. Aufgrund des hohen Bedarfs der Gäste kam es kurz vor Arbain zu einem Totalausfall. Die Pilger bekamen von alldem aber nichts mit. Die Gastgeber hatten mit Generatoren vorgesorgt. Obwohl ein Großteil der Bevölkerung nur über begrenzte Mittel verfügt, ist er doch bereit, selbige mit seinen Mitmenschen zu teilen.
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