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Aus: Ausgabe vom 13.08.2025, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Pragmatismus

Von Marc Püschel
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Doppelt pragmatisch: Sich als zupackend zu inszenieren, ist Politikern zur Imagepflege nützlich

Wenige Adjektive sind in der politischen Öffentlichkeit so positiv besetzt wie »pragmatisch«. Wer behauptet, pragmatisch zu handeln, der schreibt sich Tatkraft, nüchterne Sachorientierung und eine undogmatische Herangehensweise zu. Vom altgriechischen Pragma (Tat oder Handlung) abgeleitet, ist das Adjektiv seit der Frühen Neuzeit im Sinne von sachlich, fachkundig bzw. dem praktischen Nutzen dienend gebräuchlich.

Zu philosophischer Weihe kam es in Immanuel Kants Spätwerk »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, wobei er das zweckorientierte und nützliche pragmatische Handeln vom an moralischen Normen orientierten praktischen Handeln abgrenzte. Bildung diene dazu, »allen sonst erworbenen Wissenschaften und Geschicklichkeiten das Pragmatische zu verschaffen, dadurch sie nicht bloß für die Schule, sondern für das Leben brauchbar werden«.

Zu einer eigenen Schule wurde diese aufs Lebensweltliche zielende Tendenz allerdings erst in den USA. Das ist stimmig, denn die immer höhere Wertschätzung des Pragmatischen vollzog sich vor dem Hintergrund der allgemeinen Durchsetzung des kapitalistisch-rationalen Nutzenkalküls. So entstand gerade in dem am weitesten kapitalistisch entwickelten Land der Pragmatismus, die erste genuin nordamerikanische Philosophie. Als ihr Begründer gilt der Philosoph und Logiker Charles Sanders Peirce (1839–1914), als wichtigste Vertreter der Psychologe William James (1842–1910) und der Pädagoge John Dewey (1859–1952).

Die Prinzipien des Pragmatismus sind rasch aufgezählt: Der Mensch ist von Interessen und Bedürfnissen geleitet; Wissenschaft soll empirisch und experimentell verfahren; ob ein Gedanke richtig ist oder nicht, hängt davon ab, ob er lebensweltlich nützlich ist und praktische Ergebnisse zeitigt; insofern geht die Praxis der Theorie voraus. Für Peirce – so formuliert er es in seiner Programmschrift »Was heißt Pragmatismus?« (1905) – besteht »ein Begriff, d. h. der rationale Bedeutungsgehalt eines Wortes oder eines anderen Ausdrucks, ausschließlich in seinem denkbaren Bezug auf die Lebensführung«. Und William James forderte, man müsse »eine Theorie finden, mit der wir arbeiten können«, denn »wahre Vorstellungen sind solche, die wir uns aneignen, die wir geltend machen, in Kraft setzen und verifizieren können«.

Auf den ersten Blick könnte man also sagen: Pragmatismus ist, wenn US-Amerikaner Materialismus rezipieren. Tatsächlich klingen die Pragmatiker in ihren besseren Momenten wie Materialisten, zu denen sie jedoch in einer entscheidenden Hinsicht in diametralem Gegensatz stehen. Während diese von der Existenz einer objektiven Wahrheit überzeugt ist, entwickelten sich die Pragmatiker zu Relativisten. So warnte Peirce: »Du bringst dich nur selbst durcheinander, wenn du von dieser metaphysischen ›Wahrheit‹ und ›Falschheit‹ sprichst, über die du nichts weißt. Das einzige, womit du zu tun hast, sind deine Zweifel und Überzeugungen im Laufe des Lebens ...«

In seinem Essay »Radikaler Universalismus« (2022) gibt der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm eine interessante Deutung des Ursprungs und der Folgen dieses Relativismus. Er führt die Entstehung des Pragmatismus auf die Zeit des US-amerikanischen Bürgerkriegs zurück. Eine Schlüsselrolle spielt dabei der spätere Bundesrichter Oliver Wendell Holmes jr. (1841–1935), der auch Dewey beeinflusste. Davon, dass alle Menschen gleich sind, war der Rechtspositivst zwar weiterhin überzeugt, allerdings hielt er es nach dem Krieg für diktatorisch, anderen Menschen diese »Meinung« aufzuzwingen. Dies geriet zu einer Art nachträglichen Versöhnung mit den ehemaligen Sklavenhaltern im Süden. Die Unterdrückung der nur formell freien schwarzen Bevölkerung blieb bestehen, eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen müsse auch für die Reichen nützlich sein, wenn sie freiwillig erfolgen soll. Der Staat dürfe immer nur materielle Anreize, aber keine Verbote setzen.

Alles unter dem Aspekt der Nützlichkeit, nicht der Wahrheit zu betrachten – das ist der Kerngedanke des Pragmatismus.

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