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Aus: Ausgabe vom 13.08.2025, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Leben bis zum Äußersten

Kein Partyservice: Ein Auswahlband mit Kurzgeschichten der früh verstorbenen isländischen Autorin Ásta Sigurdarðóttir
Von Enno Stahl
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Glücklicher, als die Leute es sich jemals vorstellen konnten: Ásta Sigurdarðóttir (1930–1971)

Die Feuilletons schreiben gerne so was: Eine »echte«, wenn nicht »unglaubliche Entdeckung« habe man gemacht. Meist ist es damit nicht sehr weit her. Ein typisches Rezensenten-stereotyp, das viel gutes Licht auf den wirft, der es verwendet. Schließlich hat der Mitentdecker Teil am Glanz. Trotzdem möchte ich hier laut vermelden: Die isländische Autorin und Künstlerin Ásta ­Sigurdarðóttir (1930–1971) ist eine echte Entdeckung! Die spät genug erfolgt. Verdienstvollerweise hat der Berliner Guggolz-Verlag einen ersten Auswahlband besorgt. Er hat sich auf literarische Fundstücke solcherart spezialisiert und wartet Jahr für Jahr mit neuen Preziosen weniger bekannter Nationalliteraturen auf.

Sigurdarðóttirs Erzählband »Streichhölzer« geht gleich in die Vollen. In der ersten Kurzgeschichte des Buches greift die Ich-Erzählerin Ásta einem Mann gierig in die Haare und lässt erst los, als man ihr den Daumen ausrenkt. »Sonntagabend bis Montagmorgen« war Sigurdarðóttirs erste Veröffentlichung und sorgte im Jahr 1951 gleich für einen Skandal. Ein unerhörtes Verhalten für eine Frau, fand die damals ziemlich puritanische Gesellschaft des kleinen Inselstaats. Die Ich-Erzählerin ist auf einer Party außer sich, offensichtlich stark betrunken, wird von den Gästen angefeindet, bis einzelne sie trösten. Sie wankt ins Freie, wird von einem Fettsack aufgelesen, der sie vergewaltigen will. Sie kann entkommen und legt sich in einem nicht abgeschlossenen Auto schlafen. Am Morgen ist sie durchgefroren und völlig fertig, aber eine Gruppe Arbeiter gibt ihr Kaffee und etwas zu essen, was sie wieder aufmöbelt. Dass Proletarier hier zum Rettungsanker werden, ist kein Zufall. Es liegt vielmehr in der Natur der Sache, dem radikal antibürgerlichen Engagement Sigurdarðóttirs.

Diese Story dürfte durchaus autobiographisch geprägt sein. Sie passt zum kurzen, wilden Leben dieser aufrührerischen Geistesschwester Sylvia Plaths, die wie diese nie mit den Konventionen und der Enge der Gesellschaft klarkam, in die sie geboren wurde. Sigurdarðóttir kam aus der Provinz, sah aus wie ein Filmstar, trank, hatte ein halbes Dutzend Kinder, war rastlos literarisch und künstlerisch tätig, immer unter prekären Bedingungen. Sie starb mit 41 Jahren.

Allerdings war sie keine, wie man angesichts dieser Biographie wohl meinen könnte, frühe Trash- oder Popautorin, sondern eine Schriftstellerin von großer Sprachkunst. Man lese nur den Anfang von »Straße im Regen«: »Der graue Asphalt glänzte regennass in der Abendsonne, die Pfützen warfen Lichtpfeile in alle Richtungen. Regentropfen nieselten herab, saugten das Licht auf und trudelten zur Erde wie dem Tode geweihte Nachtfalter.« Eine phantastische Einführung in die ausweglose Situation der Ich-Erzählerin, die man erneut stark mit der Autorin identifiziert. Sie empfindet sich als Ausgestoßene, in ihrer Armut und ihrem Anderssein. In »Der Traum« verarbeitet Sigurdarðóttir auf eine so metaphorische wie drastische Weise eine Abtreibung. Ihre Erzählerin spricht aus, wie sie für die nichteheliche Schwangerschaft verspottet, verhöhnt und angefeindet wird, und dafür, dass sie – als Frau! – so lebt, wie sie leben möchte: »Wie sollte ich es anstellen, mich bei all diesen Menschen dafür zu entschuldigen, dass ich existierte? Dass ich ohne Zögern einem schönen Mann in die Arme gelaufen war, dass ich zum Vergnügen rauchte und trank, dass ich das Leben bis zum Äußersten ausgekostet hatte, glücklicher gewesen war, als die Leute es sich jemals vorstellen konnten.«

Sigurdarðóttir schrieb nicht ausschließlich autobiographisch, aber auch ihre personal erzählten Storys handeln stets von jenen, die arm und schwach sind: »gefallene« Mädchen, gealterte, gedemütigte Frauen, Missbrauchsopfer, Einzelgänger am Rande der Gesellschaft. Ein liebeskranker Schüler, der sich mit Apothekensprit besäuft. Ein Schäferjunge im Kampf gegen die beißende ­Kälte. Ein alter Mann, der sich eine Bretterbude auf einer Müllkippe gebaut hat, an einem Teich mit Tausenden Vögeln.

Sigurdarðóttir erzählt einfühlsam. Trotzdem deckt sie gnadenlos soziale Widersprüche auf, prangert alle Formen von Gewalt an, besonders gegen Frauen, ob psychisch, ob physisch. Sie ist bei den Schwachen, den Geschlagenen, den Opfern. »Wenn Literatur nicht bei denen bleibt, die unten sind, kann sie gleich als Partyservice anfangen«, hat Jörg Fauser gesagt. Sigurdarðóttir können Sie lesen, bei anderen die Pizza bestellen.

Ásta Sigurdarðóttir: Streichhölzer. Aus dem Isländischen von Tina Flecken. Guggolz-Verlag, Berlin 2025, 221 Seiten, 24 Euro

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