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Aus: Ausgabe vom 06.08.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Atomkriegsgefahr

Hohes Atomkriegsrisiko

Der Einsatz von Atomwaffen und die Drohung mit ihrem Einsatz ist völkerrechtswidrig
Von Angelika Claußen
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Die Überreste der ehemaligen »Halle zur Förderung der Industrie der Präfektur Hiroshima«, auch bekannt als Atombombenkuppel, sind heute ein Friedensdenkmal

Achtzig Jahre nach dem Inferno von Hiroshima und Nagasaki ist das Risiko eines Atomkrieges so hoch wie nie. Mehrere Atommächte sind in aktive Kriege verwickelt und bedrohen sich gegenseitig mit Atomwaffen. Der mehr als drei Jahre andauernde Krieg Russlands in der Ukraine und die russischen Drohungen, Atomwaffen einzusetzen, haben die Spannungen weiter verschärft. Im Streit mit dem russischen Expräsidenten Dmitri Medwedew verlegte Donald Trump jüngst zwei Atom-U-Boote Richtung Russland. Um diese Spannungen zu entschärfen, braucht es Deeskalation und eine Wiederaufnahme der Diplomatie für eine nukleare Rüstungskontrolle. Denn der letzte noch gültige bilaterale Abrüstungsvertrag zwischen den USA und Russland, »New Start«, läuft in sechs Monaten aus. Auch alle anderen Rüstungskontrollabkommen, an denen die EU, Russland und die USA beteiligt waren, sind in den vergangenen zehn Jahren aufgekündigt worden. Daher sollte die Bundesregierung beide Seiten auffordern, zur nuklearen Rüstungskontrolle zurückzukehren. Nur so lässt sich die atomare Rüstungsspirale stoppen.

Heute besteht ein breiter Konsens, dass das Atomkriegsrisiko höher ist als je zuvor: Im Januar ist die Weltuntergangsuhr so nah an Mitternacht gerückt wie noch nie seit ihrer Einführung im Jahr 1947. Das Stockholmer Friedensinstitut warnt, dass die Zahl der einsatzfähigen Atomwaffen steigt. Zwar ist die Zahl der Atomwaffen von 70.300 im Jahr 1986 auf heute 12.331 gesunken. Jedoch entspricht deren Sprengkraft immer noch der von 146.605 Hiroshima-Bomben. Die neun Atomwaffenstaaten gaben 2024 mehr als 100 Milliarden US-Dollar für ihre Atomwaffenarsenale aus – das sind 190.151 US-Dollar pro Minute. Auch Deutschland beteiligt sich im Rahmen der »nuklearen Teilhabe« an dieser Aufrüstung, indem es neue F-35-Kampfbomber für die US-Atomwaffen in Büchel beschafft und fast zwei Milliarden Euro in die Modernisierung des Luftwaffenstützpunkts investiert. Die Klimakatastrophe, die Entwicklung der künstlichen Intelligenz und die für 2026 geplante Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Deutschland erhöhen das Atomkriegsrisiko weiter.

Der Einsatz von Atomwaffen und die Drohung mit Atomwaffen verstoßen gegen das humanitäre Völkerrecht. Denn Atomwaffen unterscheiden sich von allen anderen Waffen durch das Ausmaß der unmittelbaren Zerstörung und durch die katastrophalen humanitären Folgen. Der radioaktive Niederschlag verursacht langfristige Schäden noch über Generationen hinweg. Atomwaffen töten bereits bei ihrer Entwicklung und Testung. Schätzungen zufolge ist durch die bei den oberirdischen Tests der 1950er und 60er Jahre freigesetzte Radioaktivität weltweit langfristig mit mindestens zwei Millionen zusätzlichen Krebstoten zu rechnen. Betroffen ist insbesondere die lokale Bevölkerung der Testgebiete. Der Atomwaffenverbotsvertrag gibt eine neue Norm vor, die den Weg zur atomaren Abrüstung aufzeigt. Dieser UN-Vertrag, an dessen Entstehung die internationale IPPNW zentral mitgewirkt hat, muss gestärkt werden, indem Deutschland dem Vertrag beitritt.

Seit dem Europawahlkampf mehren sich unter deutschen Politikern Forderungen nach eigenen oder europäischen Atombomben. Erst kürzlich sprach sich CDU-Fraktionschef Jens Spahn für einen europäischen Atomschutzschirm unter deutscher Führung aus. Doch das wäre weder mit dem Nichtverbreitungsvertrag noch mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag vereinbar. Beide Verträge verpflichten Deutschland, auf eigene Atomwaffen und die Übernahme von Kontrolle über Atomwaffen zu verzichten. Deutsche Soldaten würden die Atomwaffen in Büchel im Ernstfall auf US-amerikanischen Befehl hin einsetzen und damit gegen das Völkerrecht verstoßen. Die derzeitige technische Aufrüstung der US-Atomwaffen zu Lenkwaffen mit verstellbarer Sprengkraft erhöht die Wahrscheinlichkeit ihres Einsatzes.

Die Diskussion über eine deutsche oder europäische Atombombe ist politisch höchst fahrlässig. Statt dessen muss diplomatisch alles getan werden, um den Nichtverbreitungsvertrag zu erhalten. Eine weitere Aushöhlung oder gar ein Ausstieg Deutschlands aus dem Vertrag würden mit hoher Wahrscheinlichkeit die internationalen Rüstungskontrollabkommen zu Atomwaffen nachhaltig beschädigen, wenn nicht zerstören.

Der Weg, den die Bundesregierung eingeschlagen hat, weist in die falsche Richtung. Im Koalitionsvertrag der Merz-Klingbeil-Regierung gibt es nicht einmal mehr ein Lippenbekenntnis zu einer atomwaffenfreien Welt. Schon die Vorgängerregierung hat an der vergangenen Staatenkonferenz zum Atomwaffenvertrag nicht mehr teilgenommen, die beiden vorherigen Konferenzen hatte sie immerhin noch beobachtet. Bei der Abstimmung über eine neue Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die die gesundheitlichen Auswirkungen von Atomwaffen umfassend untersuchen soll, hat die Bundesregierung zusammen mit Ländern wie Nordkorea und Russland und einigen NATO-Staaten dagegen gestimmt, vorgeblich um Ressourcen der WHO einzusparen.

Wir als deutsche IPPNW fordern von der deutschen Regierung die entschiedene Ablehnung einer deutschen oder europäischen Atombewaffnung, den Verzicht auf die Stationierung von Mittelstreckenwaffen, die Beendigung der »nuklearen Teilhabe« und den Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland sowie den Beitritt zum UN-Atomwaffenverbotsvertrag.

Angelika Claußen ist Vorsitzende der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzt*innen in sozialer Verantwortung (IPPNW)

Hintergrund: WHO-Resolution

Atomwaffen führenschon vor ihrem Einsatz zu Gesundheitsschäden: Die Entwicklung von Atomwaffen, die mit über 2.000 Atomwaffentests einherging, hat zu einem weltweiten Anstieg von Krebs und anderen strahlenbedingten Erkrankungen geführt. Besonders betroffen sind indigene Menschen und Menschen in ehemaligen Kolonien, auf deren Land der Großteil der Atomtests durchgeführt wurde. Deshalb hat die Weltgesundheitsversammlung am 26. Mai 2025 die Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgefordert, die gesundheitlichen und umweltbezogenen Auswirkungen eines Atomkrieges und einzelner Atomtests systematisch zu untersuchen und die Forschung auf diesem Gebiet erheblich auszuweiten. Konkret sollen die wegweisenden WHO-Berichte von 1983, 1987 und 1993 zu den Gesundheitsfolgen von Atomkrieg und Atomtests aktualisiert werden. Die Bundesregierung stimmte gegen die neue Studie, zusammen u. a. mit Russland, Nordkorea und einigen NATO-Staaten. Zuvor hatten Russland und die USA gemeinsam versucht, die Resolution zu verhindern.

Die Einbeziehung der gesundheitlichen Folgen der Atomwaffentests bedeutet für die Überlebenden, dass sie ihre Forderungen nach Anerkennung und Entschädigungen mit Daten untermauern können. Die neuen Studien können einen Anstoß für weitere Forschung und für die Aufklärung der Öffentlichkeit geben. Schon Ende 2024 stimmte die UN-Generalversammlung mit überwältigender Mehrheit für die Einsetzung eines 21köpfigen unabhängigen wissenschaftlichen Gremiums, das eine neue umfassende Studie über die Auswirkungen eines Atomkrieges durchführen soll. Das Gremium wird die klimatischen, ökologischen und radiologischen Auswirkungen eines Atomkrieges und dessen Folgen für die öffentliche Gesundheit, die globalen sozioökonomischen Systeme, die Landwirtschaft und die Ökosysteme untersuchen. (ac)

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (5. August 2025 um 21:26 Uhr)
    In Japan werden die Überlebenden der Atomangriffe und ihre Nachkommen bis zur 2. Generation als Hibakusha (Atombombenüberlebende oder den Strahlen ausgesetzt) bezeichnet. Dies führte zu einer zusätzlichen Diskriminierung und Dramen jener Personen, da man Missgeburten oder behinderte Kinder befürchtete, was nach den ersten Kriegsjahren auch regelmäßig vorkam. Vor allem japanische Frauen, welche die beiden Atomangriffe überlebten, wurden wie »Aussätzige« behandelt, und konnten oft keinen Partner finden. Das Thema wurde und wird in Japan – mit einer nach wie vor mehrheitlichen wertkonservativen Gesellschaft – tabuisiert. Die Hibakusha erhalten bis heute vom japanischen Staat eine »großzügige« Gesundheitsunterstützung und die 2. und 3. Generation der Überlebenden scheinen keiner Diskriminierung ausgesetzt zu sein. Im kürzlich erschienenen isländischen Film »Touch« von Baltasar Kormákur kommt das Thema ebenfalls hoch. Der Vater möchte die Tochter sterilisieren lassen. Da sie jedoch bereits schwanger ist, wird sie nach der Geburt gezwungen, ihren Sohn zur Adaptation »freizugeben«, um nicht ein Kind zu haben, welches das Ansehen und die Ehre der Familie schaden könnte.

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