Abrisswut am Savignyplatz
Von Oliver Rast
Im Flur stapeln sich Kartons, einige sind fertig gepackt, andere noch nicht. Demontierte Schränke und Betten lehnen an Zimmerwänden, ein Sofa in L-Form verharrt abseits im Abstellraum. Im Hintergrund schleudert die Waschmaschine in der Küche. Viel Zeit bleibt den drei Bewohnern nicht mehr. Sie müssen raus. Alle. Bis zum Ende des Monats.
Wir sind am Dienstag vormittag in einer der oberen Etagen des Eckgebäudes Kantstraße 143/Bleibtreustraße 50 a in Berlin-Charlottenburg; der Autor und der Sprecher für Bauen und Wohnen der Linksfraktion in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) von Charlottenburg-Wilmersdorf, Rüdiger Deißler. Zu einer Art Lokaltermin. Denn der zweigeschossige Flachbau, der entlang der Kantstraße mit einem sechsgeschossigen Bauteil aus den 1960er Jahren überbaut ist, soll abgerissen werden. Die vier Parteien von Mietwohnungen im Haus haben im Februar ihre Kündigungen erhalten, erzählt Nina Schmidt (Name geändert) den beiden Besuchern am Küchentisch. Das Problem des WG-Trios: Die drei haben einen auf zwei Jahre befristeten Mietvertrag – und zwar jeweils nur für jedes der einzeln bewohnten Zimmer. »Das Komische ist, unsere Wohnung wurde vor unserem Einzug erst renoviert«, sagt sie, während sie aufsteht und die Tür zum Badezimmer zwei, drei Spalt öffnet. »Alles top.«
Eigentümerin des Wohn- und Gewerbeobjekts dürfte die Pohl & Prym Grundstücks- und Projektentwicklungsgesellschaft sein. Zwei Indizien: Auf der Firmenhomepage ist das Eckgebäude abgebildet samt Hinweis, dass »das stilprägende Gebäude in naher Zukunft deutlich aufgewertet« werden soll. Hinzu kommt: Pohl & Prym unterhalten in der zweiten Etage ein eigenes Büro. Bloß, was haben die »Projektentwickler« vor? Eine jW-Anfrage blieb seitens Pohl & Prym bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Mehr Aufschluss kann Ansgar Gusy (Die Grünen/Bündnis 90) geben. »Leider wird das Gebäude voraussichtlich abgerissen«, sagte der Vorsitzende des BVV-Stadtentwicklungsausschusses am Dienstag jW. Im Ausschuss wurde Mitte Juni Gusy zufolge eine »planungsrechtliche Befreiung vorgestellt, die den Abriss vorsieht«. Der Eigentümer kann somit vom gültigen Nutzungsmaß des Bebauungsplans abweichen. Der zuständige Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung, Christoph Brzezinski (CDU), bestätigte gleichentags gegenüber dieser Zeitung, dass »die Grundstückseigentümerin einen Antrag auf Genehmigung der Errichtung eines Wohn- und Geschäftshauses auf dem Grundstück gestellt hat, welcher sich noch in Bearbeitung befindet«. Unklar ist hingegen, ob auch für die Wohnungen Abrissgenehmigungen vorliegen. In dem Fall ist nicht die Bauaufsichtsbehörde zuständig, sondern das Wohnungsamt, denn es müsste gleichwertiger Ersatzwohnraum geschaffen werden, so Gusy. Klingt alles kompliziert, ist es auch.
Aber mindestens zwei Mieter wollen bleiben, nicht ihre Sachen packen. Einer ist Jens Krüger (Name geändert). Der Mitdreißiger lehnt lässig am Türrahmen – und sagt gegenüber dem Autor: Als Kündigungsgrund habe der Vermieter den Immobilienabriss angegeben. »Das Schreiben wimmelt aber von Formfehlern, ich habe Widerspruch eingelegt, und außerdem habe ich einen unbefristeten Mietvertrag.« Sicher ist Krüger damit nicht. Weil: Ein Abriss eines Gebäudes kann ein Kündigungsgrund für einen Mietvertrag sein, wenn der Vermieter eine »wirtschaftliche Verwertung der Immobilie« anstrebt, etwa durch Neubau, weiß Deißler.
Damit würde aber Wohnraum im Eckgrundstück mit vergleichsweise günstigen Wohnungen verlorengehen. Preiswert jedenfalls für das Quartier rund um den Savignyplatz. Deißler: »Bezahlbarer Wohnraum muss erhalten bleiben.« In der Kantstraße und anderswo im Bezirk. Zumal wohl nirgends mehr Mietwohnhäuser in Berlin plattgemacht würden als in Charlottenburg, betont der Lokalpolitiker.
Für Schmidt sind die Tage an ihrem alten Wohnort gezählt. Während wir uns verabschieden, lässt sie ein paar Klamotten in einen der offenen Kartons im Flur plumpsen. Mit Wehmut.
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