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Aus: Ausgabe vom 25.07.2025, Seite 10 / Feuilleton
Kolonialismus

Die Gewalt der Sprache

100 Jahre Frantz Fanon: Auch nach seinem frühen Tod 1961 breitete sich der revolutionäre Geist seiner Schriften weiter aus
Von Patrick Hönig
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Eine neue Dringlichkeit: Frantz Fanon

Sehr zufrieden hätte Frantz Fanon mit sich sein können, als er 1952 in einem renommierten Pariser Verlag seine erste Veröffentlichung unter Dach und Fach gebracht hatte, mit 27 Jahren. Doch sprach er, wie seine Mitstreiterin und Biographin Alice Cherki festhielt, kaum von seinem Erstling, und fast schien es, als habe er mit dem Buch, sobald es erschienen war, nichts mehr zu tun haben wollen. Über die Gründe kann man spekulieren, doch klar ist, dass Fanon sich etwas von der Seele schreiben musste. Zu den eindringlichsten Passagen des Buchs gehört die Beschreibung einer Zugfahrt, die der junge Fanon in Frankreich unternimmt. Da ist es plötzlich, das Urteil eines Kindes über den jungen Mann, der da mit im Zug sitzt: »Guck mal Mama, ein N−!« – »Psst. Sonst wird er noch böse!« – »Mama, ich hab’ Angst!« – »Aber schau doch nur, wie gut er aussieht, der N−!« Und jetzt hat der junge Mann – doch, es ist Fanon selbst, oder nicht? –, jetzt hat er genug. Er sagt es der Mutter des Kindes ins Gesicht: »Le beau nègre vous emmerde, Madame!« Man kann diese Äußerung übersetzen, wie es Eva Moldenhauer in der deutschen Ausgabe tut: »Der schöne N− scheißt auf Sie, Madame.« Aber richtiger scheint es mir so: »Bitte seien Sie so gut, gnädige Frau, und lecken Sie den gutaussehenden N− am Arsch!«

»Schwarze Haut, weiße Masken« ist schwere Kost, verstörend, geschrieben ohne Punkt und Komma. Es verbindet Psychoanalyse mit philosophischen Betrachtungen, spart nicht mit vulgären Bildern und der Beschreibung sexueller Phantasien. Was das Buch zusammenhält, worum es kreist und worauf es immer wieder zurückkommt, ist die Entfremdung des Individuums von sich selbst. Im weißen Europa, schreibt Fanon, sei die Familie »ein Teil der Nation«. »Das Kind, das die elterliche Welt verlässt, findet draußen dieselben Gesetze, dieselben Prinzipien, dieselben Werte wieder.« Ganz anders aber verhält es sich in der Welt der Farbigen. »Ein normales schwarzes Kind, das in einer normalen Familie aufgewachsen ist, wird bei der geringsten Berührung mit der weißen Welt anormal.« Damit ist nicht gemeint, wie man den weiteren Ausführungen entnehmen kann, dass ein solches Kind sich etwas herausnimmt, was ihm nicht zusteht, sondern dass es seinen wie selbstverständlich beanspruchten Platz in der Welt verliert.

Fanon beschreibt, wie er als Kind Comics zu lesen gewohnt war, in denen die Welt klar geteilt war in Gut und Böse, in Weiß und Schwarz. Die Hauptfiguren in diesen Geschichten waren Entdecker, Abenteurer oder Missionare, sie kamen vermutlich aus Europa, jedenfalls waren sie alle weiß. Die finsteren Gestalten und bösen Geister dagegen kamen aus Afrika oder Indien, und sie waren durchweg Schwarz. Kein Problem, das ihn betraf, glaubte Fanon, schließlich stammte er aus Martinique, einer Insel in der Karibik, nicht etwa aus Afrika, und es scheint, als habe er schon als Kind gespürt, dass er als Bewohner der Französischen Antillen einmal französischer Staatsbürger sein würde, anders als die Bewohner der Kolonien in Afrika, die man in die Unabhängigkeit entließ, was so klingt, als hätten sie eine Strafe absitzen müssen. Erst als er in Europa angekommen war, erkannte Fanon, dass es den Franzosen in der Metropole nicht um die Farbe des Passes, sondern um die der Haut zu tun war: In ihren Augen war er nicht Franzose, sondern Schwarzer. Wie war es möglich, dass er so wahrgenommen wurde, wenn er sich doch selbst nicht so sah?

Fanon litt an der Ungerechtigkeit einer Welt, die anders sein könnte, wenn man sie anders haben wollte, und doch lag es ihm fern, erlittenes Unrecht mit gleicher Münze heimzuzahlen. Er glaubte an die Möglichkeit der Erneuerung, daran, dass der Mensch sich über eingeschliffene Strukturen zu erheben in der Lage ist, indem er sich selbst erklärt und auf den anderen einlässt. Schreiben ist immer auch Dialog. 1953 ging Fanon nach Algerien, arbeitete als Arzt in der Psychiatrie mit vom Kolonialkrieg traumatisierten Menschen und schloss sich schließlich dem algerischen Befreiungskampf an. »Die Verdammten dieser Erde«, erschienen im Dezember 1961, nur wenige Tage, bevor der Autor den Folgen einer Leukämieerkrankung erlag, liest sich wie ein Manifest, und dann wieder wie Lyrik, die Sprache fiebrig und dann wieder analytisch. Fanon polarisiert, lässt nicht zu, dass sich der Leser zwischen den Zeilen versteckt. Er spricht vom »Kolonisierten« und dem »Kolonisten«, man ist das eine oder das andere. Gewalt war ihm nicht fremd. Wie auch, wenn er Teil einer Gesellschaft war, die ihr unentwegt ausgesetzt war. Er hielt sie, wie Achille Mbembe ausführt, für »unverzichtbar«, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern als Mittel gegen das »Joch der Angst« und im Ringen um die »Schöpfung von Neuem«.

Fanon gehörte zu den Wegbereitern des Postkolonialismus, ein Konzept, das bis heute heftig angefeindet wird, weil es einen gesellschaftlichen Bruch offenlegt, der nur auf Kosten von Privilegien zu heilen wäre. Zwischen dem ersten und dem letzten Buch liegen nur neun Jahre, aber die Erniedrigung des kolonialen Subjekts, von dem Fanon Zeugnis ablegt, hinterlässt Spuren. In den Zeilen, die der Autor zum Schluss noch in die Schreibmaschine diktiert, liegt eine neue Dringlichkeit. Die Kraft der Sprache – hier wie dort – bleibt unerreicht. Seine Gedanken in »Schwarze Haut, weiße Masken« schließt Fanon wie folgt: »Eines Tages entdecke ich, dass ich auf der Welt bin, und ich gestehe mir nur ein einziges Recht zu: vom anderen ein menschliches Verhalten zu verlangen.«

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