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Aus: Ausgabe vom 25.07.2025, Seite 10 / Feuilleton
Kolonialismus

Dekolonisierung gescheitert?

Eine Konferenz in Berlin zur Aktualität Frantz Fanons
Von Gerhard Hanloser
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Steht hier irgendwo »Kapitalismus«? Frantz Fanon auf einer Konferenz in Tunis, 1959

Zum 100. Geburtstag des Revolutionärs Frantz Fanon mangelte es nicht an Würdigungen. Eine der gelungensten war die am 22./23. Juli im Berliner ND-Gebäude ausgerichtete internationale Konferenz »Fanon heute – Kämpfe der Gegenwart und theoretische Perspektiven«. Organisiert hatten sie der Philosoph Robin Celikates (FU Berlin), die Rassismusforscherin Vanessa E. Thompson (Queen’s University Kingston) und die linke Tageszeitung ND – Der Tag mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Für Mitveranstalter Raul Zelik, Autor und ND-Redakteur, ist der am 20. Juli 1925 auf Martinique geborene Psychiater der »wichtigste Denker des Antikolonialismus, ein präziser Rassismuskritiker, humaner Sozialist und praktischer Internationalist«, wie er gegenüber jW betonte. Ziel des Kongresses sei es gewesen, den aktivistischen Fanon sichtbar zu machen, den entpolitisierende und subjektzentrierte Interpretationen von Teilen der postkolonialen Studien aussparen. So hatte der postmoderne Literaturwissenschaftler Homi Bhabha in seinem breit rezipierten Vorwort einer englischsprachigen Fanon-Ausgabe behauptet, dass man den Begriff »Kapitalismus« nicht mehr verwenden könne. Dem entgegen fragten die Kongressredner, wo der Kampf gegen internationale Ausbeutungsverhältnisse heutzutage ansetzen muss. Zuweilen umstritten war auf den Podien, ob man pauschal von einer Niederlage der Dekolonisierung sprechen kann, weil die nationale Befreiung in vielen ehemaligen Kolonialländern nicht zu einer sozialen Emanzipation geführt hat. So seien etwa in Simbabwe und Nicaragua neue oligarchische Strukturen geschaffen worden. Eingewandt wurde, dass es derzeit eine Wiederbelebung panafrikanischer Ideen gebe. Auch die gewachsene Bedeutung Chinas und der BRICS-Staaten insgesamt würde neue Räume eröffnen.

Einig war man sich nicht nur darin, die Klassenanalyse um die Dimensionen Rassismus und koloniale Ausbeutung zu ergänzen. Wie insbesondere Thompson betonte, sei auch der Antifaschismus auf die Höhe der globalen Verhältnisse zu bringen. Sie stellte heraus, dass viele Elemente des deutschen Faschismus, wie die Aufhebung bürgerlicher Rechte für rassistisch ausgegrenzte Gruppen, in den Kolonien gang und gäbe waren. Der erkrankte Fanon-Kenner Nigel Gibson schrieb in einem verlesenen Beitrag, wie schwer die Massaker der französischen Armee an algerischen Aufständischen Fanons ungebrochenen Antifaschismus herausforderten. Er hatte in den Truppen von General Jean de Lattre de Tassigny gegen die Nazis gekämpft, wurde bei der Befreiung Colmars verwundet. Auch in den Armeen der Antihitlerkoalition gab es Rassismus, schlugen die bürgerlich-nationalistischen Militärs antikoloniale Aufstände nieder. Thompson erklärte, dass ein heutiger Antifaschismus den Imperialismus bekämpfen müsse, der den Faschismus strukturell in sich trage. Besonderes Gewicht hätten dabei Boykotte von Waffenlieferungen und Streiks wie jene der italienischen Hafenarbeiter aus Solidarität mit Palästina.

Fast alle Redner erkannten im Genozid in Gaza ein Menetekel. Vielleicht am deutlichsten Annie Olaloku-Teriba (London) in ihrer kompakten Rede, in der sie sich vom orthodoxen Marxismus absetzte und Fanon als »Häretiker« würdigte. Kevin Ochieng Okoth (London) gab abschließend zu bedenken, dass es auch nach dem Sieg über Kolonialismus, Neokolonialismus und den Imperialismus noch viel zu tun gebe, um Gemeinschaften zu heilen, die durch Gewalt versehrt wurden. Dies sei eine der wertvollsten Lektionen, die wir von dem Revolutionär und Psychiater Fanon lernen könnten.

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