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Aus: Ausgabe vom 17.07.2025, Seite 6 / Ausland
Nach Datenleak

London lässt Helfer im Stich

Großbritannien lüftet Geheimhaltung eines Programms für afghanische Kollaborateure und stoppt Evakuierung
Von Yaro Allisat
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Auch Großbritannien hat seinen afghanischen Helfern nach dem Machtwechsel in Kabul Schutz verweigert (London, 23.8.2021)

Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan 2022 soll ein britischer Soldat eine Datenbank mit Namen und Adressen von rund 19.000 afghanischen Staatsangehörigen, die einen Antrag auf Einwanderung nach Großbritannien gestellt haben, versehentlich weitergegeben haben. Das Leck wurde erst 18 Monate später entdeckt, als einige Daten auf Facebook auftauchten. Neun Monate später startete die britische Regierung unter strengster Geheimhaltung ein Umsiedlungsprogramm namens »Afghan Relocation Route« (ARR) für die nunmehr potentiell um so stärker gefährdeten Personen, deren Namen in der Sammlung enthalten waren.

Am vergangenen Dienstag hob ein Richter des Obersten Gerichtshofs Großbritanniens die Geheimhaltungsverfügung für das ARR auf. Als Begründung nannte er die hohen Ausgaben für das Programm, welche im Haushalt nicht ohne Debatte verankert werden dürften. Laut dem Verteidigungsministerium belaufen sich die Kosten auf rund 850 Millionen Pfund (knapp eine Milliarde Euro) für die Aufnahme von 6.900 der Betroffenen. Der britischen Regierung zufolge wurden bisher rund 4.500 Personen über das Programm in das Vereinigte Königreich evakuiert.

Die allumfassende Geheimhaltungsverfügung, die erste ihrer Art, war am 1. September 2023 von einem Richter des Obersten Gerichtshofs erlassen worden. Begründet worden sei sie mit dem Schutz der Betroffenen. Ein anderer Richter verlängerte sie im folgenden Februar mit der Begründung, es bestehe die »reale Möglichkeit, dass sie dazu dient, die in der durchgesickerten Datenbank genannten Personen zu schützen«. Jedoch sei ebenfalls klar, dass die Regierung nur einem sehr kleinen Teil der Betroffenen, deren Leben durch das Leck in Gefahr sei, helfen werde und dass diese Entscheidung ohne jede Möglichkeit der Kontrolle durch die Medien oder das Parlament getroffen worden sei.

Die Regierung stoppt das Aufnahmeprogramm nun, da die Betroffenen angeblich weniger gefährdet seien als bisher angenommen. Bereits gemachte Aufnahmezusagen sollen jedoch noch eingehalten werden. Es ist nicht bekannt, ob die Taliban je in den Besitz der Daten gekommen sind. Die Downing Street wollte nicht bestätigen, ob gegen den für die undichte Stelle verantwortlichen Beamten ein Disziplinarverfahren eingeleitet wurde.

Die Personen, deren Daten sich in der durchgesickerten Liste befanden, wurden erst am Dienstag über den Vorfall informiert. Dass einige von ihnen die britische Regierung juristisch belangen werden, ist nicht ausgeschlossen. Verteidigungsminister John Healey entschuldigte sich vor dem britischen Parlament für das Leck. Ihm zufolge sei es auf eine Tabelle zurückzuführen, die »außerhalb der autorisierten Regierungssysteme« versendet worden sei, was er als »schwerwiegenden Fehler des Ministeriums« bezeichnete. Laut Healey handele es sich um »einen von vielen Datenverlusten« im Zusammenhang mit der Evakuierung gefährdeter Personen aus Afghanistan nach 2022.

Inklusive des ARR hatte Großbritannien drei Aufnahmeverfahren für gefährdete Afghanen nach der Machtübernahme der Taliban eingerichtet. Bisher wurden 36.000 Personen von Afghanistan nach Großbritannien gebracht, die Gesamtkosten bezifferte die Regierung auf voraussichtlich 5,5 bis sechs Milliarden Pfund (circa sieben Milliarden Euro). Auch die anderen beiden Aufnahmeprogramme wurden Anfang Juli gestoppt.

Seit dem Abzug der US-Truppen und der Machtübernahme der Taliban hat sich die wirtschaftliche und soziale Lage in Afghanistan immer weiter verschlechtert. Seit 2022 brach das BIP um rund 20 Prozent ein. Westliche Staaten stoppten ihre Entwicklungshilfen, die zuvor 75 Prozent des Staatshaushalts ausgemacht hatten. Die Taliban schränken mit ihrer Scharia-Gesetzgebung insbesondere die Rechte von Frauen, Mädchen und LGBTQ-Personen immer drastischer ein, Kinderarbeit und Zwangsverheiratung nehmen zu. UN-Angaben zufolge waren Ende 2024 mehr als fünf Millionen afghanische Geflüchtete vor allem in Iran und Pakistan registriert. Rund 1,6 Millionen wurden zuletzt aus Iran und Pakistan abgeschoben oder kehrten selbständig zurück.

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