Nachschub für Karlsruhe stockt
Von Kristian Stemmler
Normalerweise nimmt die Öffentlichkeit von dem eigentümlichen Verfahren, mit dem in der Bundesrepublik die »unabhängigen« Richter am Verfassungsgericht bestimmt werden, nicht sonderlich viel Notiz. Parteien mit »Vorschlagsrecht« suchen sich einen Kandidaten aus, der dann im Bundestag von der nötigen Mehrheit bestätigt wird. Insofern ist das einigermaßen chaotische Scheitern der für Freitag angesetzten Wahl von drei neuen Richtern für Karlsruhe am Freitag, mit dem die »schwarz-rote« Koalition in ihren ersten offenen Streit geschlittert ist, tatsächlich ein Novum.
Nach tagelanger Debatte über die in der Unionsfraktion als besonders »links« geltende linksliberale SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf hatte die Union am Morgen signalisiert, dass eine Mehrheit für Brosius-Gersdorf, sollte denn die SPD auf einer Wahl bestehen, voraussichtlich nicht zustande kommen würde. Schließlich wurden auf Antrag der Fraktionen von Union, SPD und Bündnis 90/Die Grünen alle drei Wahltermine von der Tagesordnung genommen.
Die Stellungnahme gegen Brosius-Gersdorf wurde in der Unionsfraktion dem Vernehmen nach aber nicht mit den zuvor vorgebrachten politischen-inhaltlichen Vorbehalten (Schwangerschaftsabbrüche, Impfpflicht, AfD-Verbot), sondern mit Plagiatsvorwürfen begründet, die erst am Vorabend publik geworden waren und wie gerufen (oder wie bestellt) kamen. Der österreichische »Plagiatsjäger« Stefan Weber hatte am Donnerstag abend erklärt, eine Software habe Übereinstimmungen bei der Dissertation Brosius-Gersdorfs und der Habilitationsschrift ihres Ehemanns gefunden. Am Freitag ruderte Weber dann beim Kurznachrichtendienst X etwas zurück: »Die Sichtweise der CDU, dass Plagiatsvorwürfe gegen Frau Frauke Gersdorf erhoben wurden, ist falsch.«
Zu diesem Zeitpunkt hatte diese »Sichtweise« aber schon ihre Wirkung entfaltet. Am Morgen informierten Unionsfraktionschef Jens Spahn und Bundeskanzler Friedrich Merz SPD-Chef Lars Klingbeil sowie SPD-Fraktionschef Matthias Miersch über das drohende Scheitern der Kandidatin. Aus Kreisen der Unionsfraktion hieß es, die Zahl der Abgeordneten, die wegen der Personalie Brosius-Gersdorf Bedenken hätten, sei in den vergangenen Tagen auf über 50 gestiegen. Parallel sei auch der Druck aus den Wahlkreisen auf die Abgeordneten gestiegen. Die Plagiatsvorwürfe hätten das Fass dann zum Überlaufen gebracht.
Anschließend gaben sich alle Beteiligten zerknirscht. »Es ist kein guter Tag für die Demokratie«, erklärte Dirk Wiese, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion, vor der Abstimmung über die Absetzung der Richterwahl. »Sogenannte Lebensschützer und rechte Portale« hätten eine Hetzkampagne gegen Brosius-Gersdorf initiiert. Steffen Bilger, parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion, rechtfertigte das Verhalten seiner Fraktion vorsichtig. Die Wahl von Verfassungsrichtern sei zu wichtig, um sie in einer »aufgeheizten öffentlichen Debatte« stattfinden zu lassen, erklärte er.
Britta Haßelmann, parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, klagte, ein »solches Desaster« habe es bei einer Wahl von Verfassungsrichtern noch nicht gegeben. Die Verantwortung dafür trage vor allem Spahn, dem Hasselmann Unfähigkeit vorwarf. Auch Linke-Fraktionschefin Heidi Reichinnek kritisierte den Unionsfraktionschef scharf. Sie sprach von einem »absoluten Armutszeugnis« für Spahn, der »auf schäbigste Weise« den Ruf von Brosius-Gersdorf demontiert habe.
Dass mit der Absetzung der gesamten Richterwahl auch nicht mehr über den von der Union nominierten Kandidaten Günter Spinner abgestimmt werden musste, dürfte der Linke-Fraktion entgegengekommen sein – kommt sie doch so um die Verlegenheit herum, das nächste Umfallen erklären zu müssen. Denn die Fraktion hatte ihre Zustimmung zu Spinner tagelang mit Nachdruck von Gesprächen mit der Union abhängig gemacht, die sich diesem Ansinnen aber komplett verweigert hatte. In der Union hat man inzwischen offenkundig ausreichend Erfahrungen mit der Linkspartei gemacht, um den Schluss ziehen zu können, dass solche Gespräche absolut unnötig sind: Am Freitag hieß es nämlich plötzlich, einige Linken-Abgeordnete hätten signalisiert, für den Unionskandidaten stimmen zu wollen. Die Begründung: Man wolle damit verhindern, dass dieser nur dank der Zustimmung der AfD ins Richteramt gewählt werde.
Wie es mit den drei Kandidaturen weitergeht, war am Freitag zunächst offen. Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) sprach sich dafür aus, die Wahlen in der nächsten regulären Sitzungswoche nachzuholen – also im September. Jetzt ist erst einmal Sommerpause.
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