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Aus: Ausgabe vom 24.06.2025, Seite 5 / Inland
Allgemeines Eisenbahngesetz (AEG)

Vorfahrt für Spekulanten

Drohende Gesetzesnovelle könnte Verschleiß der Schieneninfrastruktur noch verschärfen. Wohnungsbau vor Verkehrswende
Von Ralf Wurzbacher
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Irgendwann für überflüssig erklärt: Stillgelegte Gleise in Siegen (12.5.2025)

Gesetze kommen und gehen, manchmal ziemlich zügig. Im Fall des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) kann es der neuen Bundesregierung gar nicht schnell genug gehen. Erst Ende 2023 novelliert, soll das, was diese Novelle ausmacht, schon wieder annulliert werden.

Im Kern besagt die in Paragraph 23 ormulierte Bestimmung, dass stillgelegte Gleisflächen nur dann einer alternativen Nutzung zugeführt werden können, wenn ein »überragendes öffentliches Interesse« daran besteht. Woraus folgt: Für Zwecke wie den, an Ort und Stelle neue Wohnungen zu errichten, gibt es in aller Regel keine Perspektive. Das soll sich eiligst wieder ändern. Eine dazu Anfang Juni in den Bundestag eingebrachte Vorlage wird absehbar am Donnerstag vom Parlament verabschiedet werden und anschließend in die Länderkammer verwiesen.

Die Medien verhandeln den Vorgang als »Betriebsunfall«. Die Ampel habe es irgendwie gut gemeint, aber schlecht gemacht. Sie wollte Bahninfrastruktur bewahren, aber verhindert damit dringend nötigen Wohnungsneubau. Dabei wird umgekehrt ein Schuh draus. Nichts braucht eine funktionierende Eisenbahn mehr als Bewegungsfreiheit. Daran hapert es aber gewaltig, seit die Deutsche Bahn (DB) quasi privatisiert ist und mit ihrer ruinösen Geschäftspolitik riesige Grundstücksbestände veräußert hat. Zum Beispiel wurden innerhalb von 30 Jahren mehr als 5.000 Streckenkilometer, 67.000 Weichen und fast 9.000 industrielle Gleisanschlüsse aus dem Verkehr gezogen – zugunsten von Wohn- und Gewerbegebieten, Straßen und Fabriken. Die Gesetzesneufassung war also ein Akt politischer Notwehr, gerade mit Blick auf die fällige Mobilitätswende.

Allerdings wirken hierzulande »wichtigere« Interessen, verkörpert etwa durch Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU). Ihm war als einem der ersten aufgefallen, dass die Idee von »Stuttgart 21« – für ihn eine »Jahrhundertchance« – durch das AEG verunmöglicht werde. Diese »Idee« hatte der frühere DB-Chef Heinz Dürr, der »Vater« von »S 21«, vor drei Jahren post officium auf den Punkt gebracht: »Mir ging’s aber nur drum, wenn der Sackbahnhof wegkommt, dass dann Stuttgart 125 Hektar Land kriegt im Zentrum.« 2001 hatte die Stadt der DB das ganze Areal für 460 Millionen Euro mit dem Ziel abgekauft, dort ein komplett neues Stadtviertel hochzuziehen – das sogenannte Rosensteinquartier, mit Tausenden Wohnungen und Renditen der Sorte Wolkenkuckucksheim. Dafür gehören aber zunächst ein Bahnhof und sämtliche Zulaufstrecken verbuddelt, um später alles, was über Tage an Bahnanlagen übrig bleibt, plattzumachen.

Dem schiebt das AEG in seiner aktuellen Fassung faktisch einen Riegel vor, denn Wohnungsbau begründet nach verbreiteter Rechtsauffassung kein höheres Interesse als das an einer fahrtüchtigen Bahn. Tatsächlich hat das zuständige Eisenbahnbundesamt (EBA) seit Inkrafttreten der Norm entsprechende Freistellungsanträge in über 150 Fällen zurückgewiesen. Das »Aktionsbündnis gegen S 21« begrüßt das und warnt vor einem Rollback. Das treibe erneut Entwicklungen voran, »wie sie zu dem beklagenswerten Zustand unserer Bahn heute geführt haben«, teilte der Verband am Sonnabend mit. Wohnungsbau könne durchaus eine Strategie gegen Wohnungsnot sein, »gewiss aber nicht durch Hinsetzen eines neuen Stadtteils mitten in die Frischluftschneise einer hitzegeplagten Metropole« und zu Lasten einer unverzichtbaren Schieneninfrastruktur. Inzwischen gilt als ein denkbarer Weg, »S 21« überhaupt retten zu können, den alten Kopfbahnhof weiterzubetreiben.

Eine »versteckte verkehrspolitische Konterrevolution« befürchtet auch das Bündnis »Bahn für alle«. Insbesondere die Sicherung von bestehenden Trassen vor Entwidmung sei ein wichtiger Fortschritt; »jetzt soll dieser elementare Baustein der Verkehrswende kassiert werden«, erklärte am Montag Verbandssprecher Carl Waßmuth gegenüber junge Welt. »Mehr Menschen sollen laut Koalition in mehr Züge, aber wo sollen diese Züge fahren? Auf den jetzt schon verstopften Trassen? Und was ist mit der Anbindung ländlicher Räume?« fragt sich der Aktivist. »Das Parlament sollte gegensteuern.« Anders ausgedrückt: Man hat den Menschen für womöglich 20 Milliarden Euro als »tolle Eisenbahn« verkauft, was in Wirklichkeit eine Goldgrube für Immobilienspekulanten werden soll.

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