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Aus: Ausgabe vom 14.06.2025, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage
Kunst

Gegen das Gift des schönen Scheins

Kommunisten sind keine Asketen. Liebe, Lust und Leidenschaft. Eine Ehrung für den Maler Thomas J. Richter zum 70. Geburtstag
Von Peter Michel
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Thomas J. Richter: »Herr Richter, so was malt man nicht«, 2013, Öl auf Hartfaser, 100 × 62 cm

Die Wörter Kommunismus und Verzicht

dürfen nicht in einen Satz.

Peter Hacks

Wie eine Säule steht eine Landschaft mitten im Meer. Eine nackte Frau sitzt auf einem orangefarbenen Tuch vor einer roten Hütte zwischen zwei Bäumen. Auf die Höhe der Landschaft führt eine lange Treppe, auf der sich ein Liebespaar aneinander freut. Daneben die Terrassen eines Weinbergs. Drei Türme und ein burgartiges Gebäude sind mit roten Flaggen geschmückt. Auch eines der kleinen Boote führt eine rote Fahne mit. Die warmen Farben des Himmels wiederholen sich an den Felswänden und auf der Spitze des Berges. Perspektiven sind verändert, bilden dennoch ein Ganzes. Eine Landschaft, die reale Dinge auf eigenwillige Weise neu zusammenfügt, wird zu einem Sinnbild selbstbestimmten Lebens, ihr Erscheinungsbild ist nun ein Quell des Genusses. Sie ist poetisch, romantisch ohne Weltferne, ernst, melancholisch, erhaben und schlicht. Abgeschiedenheit, Einsamkeit und Ruhe vereinigen sich mit dem Bedürfnis nach Schönheit. Bedrohungen werden bewusst ausgeklammert: Wir leben hier und jetzt! Das ist unser Anspruch trotz aller Gefährdung! Für mich ist dieses Bild eine Antithese zu Arnold Böcklins weltentrückter »Toteninsel«.

Thomas Jakob Richter nannte es »Flaggen auf den Türmen«. Vielleicht hat ihn der ebenso benannte autobiographische Roman Anton Semjonowitsch Makarenkos aus dem Jahr 1938 dazu angeregt. Das Bild zeigt eine eigene Ikonographie des Strebens nach Glück – gegen die Zumutungen einer menschenfeindlichen Gegenwart. Gemalt wurde es im Jahr 2005. Ein Jahr später stand es in der Galerie der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM) im Mittelpunkt seiner Personalausstellung. Dort brachte man ihm Verehrung und Freundschaft entgegen. Zahlreiche Kunstfreunde fanden sich mit ihrem Denken und Fühlen in Thomas J. Richters Gemälden und Grafiken wieder. Sie spürten: Hier ließ sich ein Künstler nichts vormachen. Er schuf sich selbst ein Bild vom Menschen. Aus dieser Selbstbehauptung sind seine Werke gewachsen, seine Formen und Farben – nicht illustrativ, oft symbol- und gleichnishaft, eine ureigene Bildsprache: Das Ich als scharfsinniges Gegenbild zur widerspruchsvollen Welt, die nicht mehr unsere Welt ist, in der wir aber nun leben.

Freiheit der Phantasie

1989 sei ihm schlecht geworden, schrieb er in einer autobiographischen Skizze. Als dieses Jahr hereinbrach, gehörte der 1955 Geborene statistisch noch zu den jungen Künstlern. Heute vollendet er sein 70. Lebensjahr. Seine Biographie erstreckt sich durch Welten, die gegensätzlicher nicht sein können. Die kommunistischen Ideale, die er vor jener beklemmenden Zäsur kritisch verinnerlicht hatte, sind ihm nicht anpasserisch abhandengekommen. Sie sind das Maß, an dem er die Realität von heute misst, das sein Handeln bestimmt und das in seine eigenwillige, poesie- und kraftvolle Kunst hineinwirkt. Wer jedoch deshalb in seinen Gemälden, Graphiken und Zeichnungen Vordergründigkeit vermutet, wird enttäuscht. Da herrscht eine lustvolle Freiheit der Phantasie, die zu der Frage anregt, worin der Anspruch bildender Kunst heute besteht, die etwas bewirken will.

Hans Grundig bettete in zwei Bildern von Faschisten Ermordete auf Goldgrund und ehrte sie auf diese Weise. Ein liegender Akt Thomas J. Richters ruht selbstvergessen auf samtenem Rot, schön und naiv hingestreckt wie die »Yadwiga« des Zöllners Rousseau. Liebespaare liegen in stillen, arkadischen Landschaftsräumen, schweben in erotischem Spiel über der Welt, haben ihre nahezu kindliche Freude daran, setzen sich über moralische Konventionen hinweg. Die Himmel sind weit, die Paysagen offen, die Fenster kein Hindernis. So weit sind die Haltungen Hans Grundigs und Thomas J. Richters nicht voneinander entfernt. Beiden geht es um Menschenliebe. Humanität ist das Bindende. Die Frage nach dem Politischen ist zur einfachen Frage nach dem Menschentum geworden. In Thomas J. Richters Kunst gibt es keine Pathosformeln. Die größten Dinge wollen schlicht ausgesprochen sein; sie verlieren sonst ihre Kraft.

Solche Bilder provozieren, die Widersprüche mitzudenken, aus denen sie erwachsen. Da ist – bei aller gestalterischen Stille – ein verbissenes, wütendes, Selbstbestätigung suchendes Anmalen gegen aufgezwungene Lebens- und Arbeitsbedingungen. Da ist Sehnsucht nach Geborgenheit im Egoland. Die Freundlichkeit der gemalten Paradiese kann die Seelendramen nicht verdecken, die sich im Inneren abspielen. Es klagt in den Düsternissen mancher Bilder. In der schutzsuchenden, inselhaften Existenz von Leibern, einsamen Gebäuden und anderen Bildelementen ist aktuelle Angst vor der unbegrenzten Herrschaft des Geldes, vor sozialer Eiszeit und Ignoranz zu spüren. Verletzlichkeit und gepanzertes Ruhen in sich selbst verschmelzen miteinander. Intimität und Öffentlichkeit mischen sich, Animalisches und Zartes, Melancholie und Euphorie, auch Romantisierung und kristallklare Analyse, scheinbare Weltflucht und Verteidigung des Rechts auf ein Stückchen Glück – vergleichbar mit Hans Falladas Romanen.

Man wird diesen Bildern nicht gerecht, wenn man nur die Peinture lobt. Gute Malerei ist Voraussetzung für solche Botschaften. Diese Werke sind heilsam gegen das Gift des schönen Scheins. Es sind Rufe gegen die allgegenwärtige Barbarei. Hinter der Negation der falschen Welt, in der wir leben, wird die mögliche sichtbar. Die Kraft des Künstlers reicht weiter als bis zum Spiel. Sein Werk lebt vom freudvollen Beharren auf Lebenslust, auf menschlichem Maß, auf dem Recht auf Glück in einer glücklichen Umwelt. Der Anspruch auf Individualität mischt sich mit der Verantwortung für wirkliches Miteinander.

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Thomas J. Richter: »Herr Richter, so was malt man nicht«, 2013, Öl auf Hartfaser, 100 × 62 cm

Entwicklung ohne Zäsuren

Das war es, was mich in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf seine Kunst neugierig machte. Als die Sektion Kunstwissenschaft des Berliner Künstlerverbandes 1988 im Berliner Ephraimpalais eine Ausstellung unter dem Titel »Der eigene Blick« veranstaltete, wurde ich neben neun weiteren Kunstkritikern und Wissenschaftlern aufgefordert, mich mit einer persönlichen Auswahl zu beteiligen. Gemeinsam mit Arbeiten von Dieter Bock, Heidrun Hegewald, Lutz Holland und Winfried Wolk wählte ich dafür auch Werke von Thomas J. Richter aus, darunter sein Gemälde »Park mit Akten und Einhorn«. In einer arkadischen Landschaft vereinigten sich Bäume, Hügel, Gebäude, ein Teich, Frauenakte und das Einhorn. Dieses uralte phantastische Wesen hat seit jeher in der Kunst eine phallische Bedeutung; zugleich ist es ein Symbol für Reinheit und Stärke.

Unsere Freundschaft begann, als wir neben anderen auch dieses Bild auswählten. Sein Atelier befand sich damals in einer vernachlässigten Dachwohnung in der Berlin-Friedrichshagener Bölschestraße. Beim Gespräch wurde schnell klar, wie sehr wir in der Ablehnung einer lediglich auf egomanische Selbstentäußerung bedachten, auf reine Ästhetik der Mittel reduzierten Kunstauffassung übereinstimmten. Er machte sich lustig über damals junge Kunstwissenschaftler, die solchen gar nicht neuen Denkweisen revoluzzerhaft anhingen. In den vergangenen Jahren sahen wir uns öfter in seinem neuen Atelier in einem Gartenhaus gegenüber der alten Atelieradresse. Zuletzt übergaben wir ihm ein Honorar, das eine begeisterte Kunstliebhaberin in der Ausstellung »Zeitzeichen« der Ladengalerie der jungen Welt für eine nächtliche Stadtlandschaft voller erotischer Symbole bezahlt hatte. Manchmal sehen wir uns zufällig beim Einkaufen auf der Bölschestraße, wenn er sich mit seinem Rollstuhl zwischen den Fußgängern vorwärtsschiebt.

Begegnungen mit seinen Gemälden und Grafiken gab es immer wieder in Ausstellungen junger Künstler in der DDR, 1998 in der Berliner Galerie im Turm, 2005 in der Galerie Pohl Berlin, 2011 im Vorpommerschen Künstlerhaus Heinrichsruh oder 2015 anlässlich seines 60. Geburtstages in der Galerie Pankow. Als er diesen Geburtstag beging, war er schon nicht mehr gesund, doch seinen Lebensmut hat er nicht verloren.

Zu Thomas J. Richters Arbeiten im öffentlichen Raum gehört ein Wandbild, das er für eine Gärtnerei in Berlin-Rahnsdorf malte. Auch eine steinerne Plastik der dort wohnenden Bildhauerin Ingeborg Hunzinger steht auf dem Gelände. Thomas J. Richter und diese streitbare jüdische Künstlerin waren eng befreundet. Als sie alt und hilfsbedürftig wurde, half er ihr, wo er konnte. Künstlerfreundschaften sind für ihn Solidargemeinschaften. Auch Joachim John, dieser großartige Zeichner und Grafiker, war ihm mit seinem expressiven Realismus ein Freund.

Aus dem riesigen Fundus Thomas J. Richters eine Auswahl von Gemälden, Grafiken und Zeichnungen für Ausstellungen zusammenzustellen ist schwer. Man wird hin und her gerissen angesichts immer neuer, überraschender, mit Kraft und Delikatesse gestalteter, auch provozierender Arbeiten. Der Kunstwissenschaftler Jörg Makarinus verwies darauf, dass es auf Thomas J. Richters Schaffensweg eine klare, kontinuierliche Entwicklung ohne Zäsuren und schroffe Richtungswechsel gibt. Das spricht für einen starken Willen. Und man entdeckt seine Verehrung für den Neuerer Pablo Picasso, für den hochsensiblen Maler Werner Heldt, auf dessen Werken menschenleere Straßen zum Spiegel seiner Seele wurden, und für die geheimnisvollen, melancholischen Städtebilder der Pittura metafisica Giorgio de Chiricos. Vor allem aber interessiert sich Thomas J. Richter für die Kunst der Naiven, für den Zöllner Henri Rousseau, für den Georgier Niko Pirosmanaschwili und andere. Da geht es um Entdeckerfreude. Er meinte in einem Gespräch: »Der Mensch staunt über sich selbst, indem er sich selbst erkennt. In der Kunst formuliert er dieses Staunen, diesen Erkenntniswillen.« Wenn man Naivität – wie schon Brecht und andere – als Fähigkeit zum Staunen interpretiert, so sind die Bilder Thomas J. Richters im besten Sinn naiv, weil sie den Betrachter auf die Schönheiten des Lebens stoßen und ihn daran erinnern, Augen und Verstand zu öffnen, auch für Dinge, die scheinbar nebensächlich sind. Vor allem aber für Verhältnisse, die in der gegenwärtigen menschenverachtenden Gesellschaft Ohnmacht und Hilflosigkeit hervorbringen und eine lust- und phantasievolle Opposition provozieren.

Drei Generationen

Für die Besessenheit, mit der Thomas J. Richter arbeitet, gibt es noch einen anderen Grund: Er entstammt einer Malerdynastie, die von seinem Großvater Gottfried Richter begründet wurde. Dessen bekanntestes Gemälde »Wir sammeln uns« wurde 1951 zum ersten Mal ausgestellt. In einer noch vom Krieg zerrissenen Stadtlandschaft strömen Menschen zusammen und vereinigen sich zu einem Demonstrationszug. In den Menschenmassen blitzen wie Signale rote Fahnen in den reinsten Farben auf. Beim Enkel Thomas gehören rote Fahnen in vielen Bildern selbstverständlich zum Inventar. Sie geben auch den intimsten Sujets eine gesellschaftliche Dimension. Thomas J. Richters Vater, der zweite Vertreter dieser Dynastie, hieß Gottfried Uwe Richter und war Meisterschüler an der Akademie der Künste der DDR bei Max Lingner. Er ist vor allem als Zeichner und Karikaturist bekannt.

Derart vorbelastet begann Thomas J. Richter 1976 ein Studium der Geschichte und Kunsterziehung an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Zwei Jahre später wechselte er an die Kunsthochschule Berlin-Weißensee und studierte dort bis 1983 Malerei und Grafik. Seitdem lebt und arbeitet er in Berlin-Friedrichshagen. Er nahm einen Porträtauftrag des Magistrats von Berlin an, beteiligte sich an der künstlerischen Gestaltung des U-Bahnhofs Rosa-Luxemburg-Platz und schuf 1988/89 gemeinsam mit dem Bildhauer Martin Wilke für das Bezirksamt Pankow die beinahe sechs Meter hohe Skulptur »Schiff zur Rettung der Unschuld der Kunst«. In der »Wende«-Zeit war er Meisterschüler an der Akademie der Künste bei Nuria Quevedo. Seine Werke sind in den Kunstsammlungen Cottbus und Neubrandenburg, in der Nationalgalerie der Staatlichen Museen Berlin und in anderen Sammlungen zu finden. Auch die Redaktion der jungen Welt besitzt eines seiner bedeutenden Werke. Seit 2007 ist er künstlerischer Mitarbeiter dieser Tageszeitung und ihrer Galerie. In zahlreichen Ausgaben der jungen Welt und in ihrer Werbung sind seine Zeichnungen zu finden. Er prägte das Erscheinungsbild unserer Zeitung entscheidend mit.

Vor 17 Jahren erschien, herausgegeben von Heike Friauf, die Schrift »Eros und Politik. Wider die Entfremdung des Menschen« mit Texten der Herausgeberin, von Peter Hacks, Leo Kofler und Werner Seppmann. Zu dieser Broschüre steuerte Thomas J. Richter 32 Bilder und Grafiken bei, davon vier farbig auf dem Umschlag. Hier wurde der sehr gelungene Versuch unternommen, Eros und Erotik aus der Sicht von Marxisten zu analysieren und die Überzeugung zu stärken, dass Revolution und freie Entfaltung von Liebe, Eros und Erotik zusammengehören. Das ist das Anliegen des Lebenswerkes von Thomas J. Richter. Ein herzlicher, solidarischer Geburtstagsgruß und alle guten Wünsche gehen am 15. Juni in sein Atelier.

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