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Aus: Ausgabe vom 14.06.2025, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Unvorstellbare Selbstüberschätzung

Am 22. Juni 1941 überfiel das faschistische Deutschland die UdSSR. Der Historiker Dietrich Eichholtz (1930–2016) stellte 2011 in jW die deutschen »Blitzsieg«-Pläne dar
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Bomber der Naziluftwaffe im Anflug auf sowjetische Städte am 22 Juni 1941

Bis zum 22. Juni 1941 hatte die Wehrmacht in halb Europa gesiegt. Was jetzt begann, betrachteten die Spitzen des Regimes, ihren »Führer« nicht ausgenommen, militärisch als Fortsetzung der bisher im Stil von »Blitzsiegen« gewonnenen Feldzüge. Im Vollgefühl ihrer in weniger als anderthalb Jahren erfochtenen Erfolge stellten sich die Verursacher des neuen Krieges seinen Verlauf als »schnellen Feldzug« von wenigen Monaten, ja Wochen vor. Vier, vielleicht sechs Wochen nach dem Überfall schienen ihre Pläne militärisch noch aufzugehen. Doch schon im Juli/August 1941 lief ihnen die Sache aus dem Ruder. Damit brach die ganze riesenhafte Eroberungs-, Mord- und Vernichtungsplanung ihres Krieges um die künftige Weltvorherrschaft am sowjetischen Widerstand zusammen. Die folgenden Niederlagen vor Smolensk, Leningrad, Moskau, Stalingrad, Kursk usw. legten die entscheidenden Grundlagen für die Rettung der europäischen Friedensordnung und Kultur vor Völkermord und Nazigreueln.

Niemals haben sich bis dahin Politiker und Generale derart katastrophal verkalkuliert wie Hitler und die deutsche Generalität bei ihrem Entschluss, die UdSSR »in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen« (Weisung 21 vom 18.12.1940). Diesen Entschluss allein der abstrusen Gedankenwelt eines megalomanen »Führers« zuzuschreiben, zeugt von erstaunlicher Unkenntnis der historischen Voraussetzungen seit den Anfängen der imperialistischen Entwicklung des deutschen Kaiserreiches, seit dem Ersten Weltkrieg und dem Aufkommen des Faschismus.

In der Welt der deutschen Militärs waren die Schwäche des russischen Gegners im Ersten Weltkrieg, der Zusammenbruch des Zarismus, die deutschen Siege bis hin zum Frieden von Brest-Litowsk stets in lebhafter Erinnerung. Ganz besonders aber waren der Hass gegen die neue bolschewistische Macht prägend und die »Schmach« des deutschen Rückzugs aus der Ukraine und vom Kaukasus bei der deutschen Niederlage 1918, als man unter Bruch des Brester Friedens bis nach Georgien und fast bis zum Kaspischen Meer gelangt war. (…)

So war es der 1938 frisch eingesetzte Chef des deutschen Heeresgeneralstabs, General Franz Halder, der schon im April 1939 nach der Okkupation Prags zustimmend prophezeite, man könne nun endlich gegen Polen vorgehen, das in zwei Wochen zu »zermalmen« sei, und dann mit der siegreichen Armee, »erfüllt von dem Geist gewonnener Riesenschlachten«, dem »Bolschewismus« entgegentreten und auch im Westen Krieg führen. Derselbe Halder begann im Juni 1940, unmittelbar nach dem überraschenden Sieg über Frankreich und der Flucht der britischen Kontinentalarmee über den Kanal, mit Planungen für einen Aufmarsch gegen die Sowjetunion. In diese Planungen, die bereits vom Geist einer unvorstellbaren Hybris und Überschätzung der eigenen Kräfte beherrscht waren, schaltete sich im Juli 1940 Hitler ein. Er bestätigte den Heeresplanern, die UdSSR als »ostasiatischer Degen Englands« müsse »erledigt« werden. Nach Halders Notizen (31.7.1940) gab er als Termin vor: »Mai 1941. Fünf Monate Zeit zur Durchführung.«

Die hierauf in den Stäben produzierten Operationsentwürfe und Feldzugspläne verraten den Ehrgeiz ihrer Verfasser, Hitlers Fünf-Monate-Frist womöglich noch zu unterbieten. Einer der ersten Entwürfe, vom 5. August 1940, nahm die Dauer des Feldzugs »mindestens« mit neun Wochen, »im ungünstigsten Fall« mit 17 Wochen an, das heißt bis September (oder gar nur bis Juli) 1941. (…)

Auf einer der letzten Tagungen der Wehrmachtführung vor dem Überfall (30.4.1941) legte der Oberbefehlshaber des Heeres, Generalfeldmarschall Walther von Brauchitsch, seine Überzeugung vom baldigen Ende des Feldzugs dar: »Voraussichtlich heftige Grenzschlachten, Dauer bis zu vier Wochen. Im weiteren Verlauf wird dann aber nur noch mit geringerem Widerstand zu rechnen sein.«

Dietrich Eichholtz: Der Überfall auf die UdSSR. Das unlösbare Problem der deutschen Weltherrschaftskrieger. In: jW, 22. Juni 2011

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