Widersprüchliches Gedenken
Von Bernard Schmid, Paris
In Frankreich ist am Donnerstag wie auch anderswo in Europa der Befreiung weiter Teile Europas vom Faschismus am 8. Mai 1945 gedacht worden. Aber erstmals drang auch eine andere Erinnerung in etwas breitere Kreise vor, die in früheren Jahrzehnten noch weitestgehend tabuisiert war: die Erinnerung daran, dass am selben Datum im damals von Frankreich kolonisierten Algerien eine Repression begann, die noch bis Ende Mai 1945 andauerte. Dass ihrer in dem nordafrikanischen Land ein auch staatsoffizielles Gedenken gewidmet ist, verwundert nicht: Seit 2020 steht es im amtlichen Kalender.
Laut einem Beitrag des Historikers Sébastien Ledoux in der Donnerstagsausgabe der liberalen Pariser Abendzeitung Le Monde – immerhin erschienen unter dem eindeutigen Titel »Der 8. Mai 1945 in Algerien war ein koloniales Massaker« – wird die Zahl der damaligen Opfer mit 15.000 bis 20.000 angegeben. Das ist noch eine vorsichtige Schätzung. Die genaue Anzahl der Getöteten bleibt zwar unbekannt, doch reichten Angaben, die schon bald nach den Ereignissen in den USA kursierten, bis zu 40.000, maximal 45.000. Letztgenannte Zahl griff auch Algeriens Staatspräsident Abdelmadjid Tebboune am Donnerstag in einer »Erklärung an die Nation« auf.
Auslöser der Massaker war, dass am Tag des Kriegsendes in West- und Mitteleuropa im algerischen Sétif ebenfalls eine feierliche Parade stattfand, an der auch Pfadfinder mit der algerischen Nationalfahne teilnehmen wollten. Schließlich hatten Zehntausende Algerier auf seiten Frankreichs gegen die Nazis gekämpft – nun hofften sie auf ein Ende des Kolonialismus. Die algerische Fahne war übrigens 1936 von Émilie Busquet kreiert worden, der Ehefrau des damals führenden antikolonialen Politikers Messali Hadj – eine gebürtige Französin hatte also das erste Exemplar der Flagge des noch zu entkolonisierenden Landes genäht.
Der 26jährige Fahnenträger Bouzid Saal wurde in Sétif von der Polizei erschossen. Dies löste eine Revolte aus, bei der Einwohner die bewaffneten Staatsorgane angriffen – aber auch 102 europäische Siedler und Grundbesitzer wurden im Verlauf getötet. Die brutale Antwort war der Einsatz der Luftwaffe, von Kriegsschiffen im Mittelmeer und Panzern. Wohnviertel und Strandstreifen wurden bombardiert. In Guelma nahmen »weiße« Milizen von Siedlern an der Repression teil, in der nahegelegenen römischen Ruinenstadt Héliopolis verbrannten sie Leichenberge in Öfen. Zentren des mörderischen Treibens waren die Städte Sétif, Guelma und Kherrata, aber auch an der Küste bei Melbou und in geringerem Maße in den Gemeinden Aokas, Souk Al-Tenin sowie Ain Temmouchent wurde gemordet.
Bis zu dreißig französische Mandatsträger, unter ihnen zwölf Abgeordnete, waren am Donnerstag zum diesjährigen Gedenktag in Algerien angekündigt. Mehrheitlich gehörten sie der Linken an. Unter ihnen befanden sich etwa die Grüne Sabrina Sebaihi, der KP-Parlamentarier Stéphane Peu und der Sozialdemokrat Laurent Lhardit – Vorsitzender der parlamentarischen Freundschaftsgruppe Frankreich/Algerien. Auch der Zentrumspolitiker Raphaël Daubet wurde erwartet – trotz derzeit angespannter Beziehungen zwischen den beiden Staaten. Von rechts kam dafür erwartungsgemäß Kritik. Die Konservative Anne-Laure Blin etwa bemängelte: »Das Interesse der Franzosen, das Interesse unserer Nation« hätte Vorrang haben müssen.
In Marseille organisierte der sozialdemokratische Bürgermeister Benoît Payan nach der offiziellen Gedenkfeier für das Kriegsende in Europa 1945 auch eine weitere für die algerischen Opfer desselben Tages. Dies trug ihm ebenfalls eine Kampagne der lokalen Rechtsopposition ein. Diese warf ihm gar vor, »die Geschichte umschreiben« zu wollen. Im ostfranzösischen Strasbourg riefen die Linkspartei LFI, die Grünen, die Antirassismusvereinigung MRAP und ein jüdisch-arabisches Kollektiv zu einer Kundgebung auf. In Algerien herrscht trotz aller innenpolitischen Kontroversen zwischen Regierungskreisen und Opposition absolute Übereinstimmung über die Natur des Kolonialismus und die Bewertung des 8. Mai 1945.
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