Ringsum Apfelblüten
Von Burga Kalinowski
Kennen Sie das Lied? »Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten …« Da muss Christian Dorn erst mal nachdenken. Ich summe die Melodie vor, zitiere die nächste Textzeile: »… still vom Fluss zog Nebel noch ins Land.« Doch, das kennt er. Katjuscha. Bestimmt früher im Radio gehört oder in einer Veranstaltung damals in der Kulturhalle im Dorf oder in Seelow bei einer Gedenkfeier zum 8. Mai, wie sie in der DDR üblich waren mit Fahnenappell, Vereidigungen, Junge Pioniere brachten Blumen. Vielleicht haben es auch sowjetische Soldaten gesungen, die der LPG bei der Ernte geholfen haben, wenn Not am Mann war. Mit Akkordeon abends beim Umtrunk. Denkbar wäre es. Ja, die LPG Golzow hatte guten Kontakt zu der sowjetischen Garnison in der Nähe. So war das nicht überall im Land, aber selten war es auch nicht.
Der Große Vaterländische Krieg, in dem die Sowjetunion die meisten Opfer trug, warf lange Schatten: 27 Millionen Tote, die Überlebenden beraubt und zerstört ihr Land durch Nazideutschland. Nicht gleich und nicht alle, aber mit der Zeit begriffen vor allem die DDR-Deutschen das Verbrechen und die geschichtlichen Konsequenzen daraus, lernten politische Verantwortung und in der Schule: Nie wieder Krieg. Und heute? Der 87jährige Dorn erinnert an die Oder-Neiße-Friedensgrenze, nicht weit von hier. Im Oderbruch fand die letzte große Schlacht des Zweiten Weltkrieges statt.
»Und nun rollen wieder deutsche Panzer Richtung Osten nach Litauen, dicht ran an die russische Grenze. Deutschland hat zwei Weltkriege angefangen und verloren. Soll die Geschichte jetzt umgedreht werden?« Das fragt sich Christian Dorn. Antworten gibt der politische Alltag. Boris Pistorius besteht auf der Kriegsfähigkeit der Gesellschaft und sieht Deutschland auf einem exzellenten Weg zu einer Führungsposition in Europa (Stern, 29.4.2025). Und der haarscharf als Kanzler bestätigte Friedrich Merz lässt vielleicht bald den »Taurus« für die Ukraine verladen und guckt zu, wenn Selenskij morgen wie angedroht Moskau beschießen lässt. Sein künftiger Außenminister Johann Wadephul jedenfalls sieht Gründe: 1. Russland ist immer unser Feind und 2. Putin muss man es zeigen. Das Trio Infernale steht bereit. Es wäre nicht neu: Deutschland will führen. Wohin und gegen wen – geht es wieder mal um die ganze Welt? Klar, Neuverteilung lukrativer Claims, Rohstoffe, Märkte. Zunächst einmal gegen die Russen. Sie werden durch das Kartell der Regierenden und der nicht mehr Regierenden vom offiziellen Gedenken an den Jahrestag der Befreiung ausgeschlossen: Weil Moskau antiukrainische Kriegspropaganda betreiben würde.
Dieser Erlass – eine »Handreichung« aus dem Außenministerium –, scherte die Seelower Veranstalter nicht wirklich. Der russische Botschafter legte unbehelligt Blumen nieder. Die Leitung der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora dagegen verbat sich russische Vertreter beim Gedenken. Auch der Leiter der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, zu der die Konzentrationslager Sachsenhausen und Ravensbrück gehören, machte einen Diener gegenüber der Regierung: Kein Erinnern an die Russen – kein Erinnern mit den Russen. Wen interessiert’s, dass im damaligen Konzentrationslager zwischen 13.000 und 18.000 sowjetische Kriegsgefangene ermordet wurden, dass im April 1945 sowjetische und polnische Einheiten das Lager befreiten. »Über den Toten von vor 80 Jahren heutige Konflikte auszutragen, ist schändlich«, schrieb die Berliner Zeitung und »Schande über die Geschichtsvergessenen«.
Auf immer Schlachtfeld
Christian Dorn, Jahrgang 1938, ist im April 1945 gerade sieben Jahre alt geworden. Der Zweite Weltkrieg geht zu Ende und der Junge mit Familie zu Fuß von Küstrin über die Oderbrücke Richtung Seelow. Im April 2025 bin ich mit ihm unterwegs auf der damaligen Reichsstraße 1, nun Bundesstraße 1. Von Seelow aus fahren wir zu den Orten seiner Erinnerungen. Dörfer wie Manschnow, Lebus, Gorgast gehören dazu, und natürlich Golzow. Stationen seines Lebens: Elternhaus, Schule, Mechanikerausbildung, Fernstudium an der Ingenieurschule Wartenberg, Arbeit in der LPG Golzow, später einige Jahre Bürgermeister des Dorfes. Am liebsten liest er Bücher über Geschichte. Er erzählt, dass in Golzow die Wehrmacht stand und mit Raketenwerfern schoss, wie der Major einer Luftnachrichtenabteilung Betriebe sprengen ließ und auch die Kirche mitten im Ort, weil sie ein Ziel für die von der Oder her angreifende Rote Armee sein könnte. Eine Stele erinnert daran und die Ausstellung im Gemeindezentrum.
Als hätte er eine Karte vor sich, zeigt er: Da, links auf dem Feld lagen zerschossene Panzer, Flugzeugwracks, Geschütze, Autos. Die Erde war zerstört und aufgerissen wie eine Wunde. Minen und Granaten. Tote. Ein Schlachtfeld bis in alle Zeiten, auch wenn heute Getreide hier wächst und der Raps blüht. Die Narben sieht man besonders im Winter und Frühjahr. Unvergessen für ihn die Geschichte eines Rotarmisten, der im ersten Sommer nach dem Krieg bei einer Patrouille entlang der Telefonleitung von einer Mine zerfetzt wird. »Wir Kinder haben da gespielt.«
Von hier aus ist die »Gedenkstätte der Befreiung auf den Seelower Höhen« zu sehen. So war der Name in der DDR und noch kurz nach der »Wende«. Vor Jahren war er mit seiner Enkeltochter da. Nee nee, sagt er nur zu der damals neu gestalteten Ausstellung über den verlustreichen Kampf im April 1945. Ich sollte mal die Eintragungen der Besucher in den Gästebüchern lesen – viel Empörung und Unverständnis über diese Art von Gedenkkultur. Und ehe es vergessen wird: Lange vor dem Ukraine-Krieg wurde aus dem Namen der Gedenkstätte das Wort Befreiung entfernt, etwa 1995. Die neuen Sieger aus dem Westen strichen den alten Siegern aus dem Osten die Ehre ihrer historischen Leistung. Schmälerten ihren Ruhm, wo und wie es nur geht. Instrumentalisierung und Propaganda kann Deutschland auch.
Politisches Gekeife und historische Perspektivenwechsel gehen seit Jahrzehnten an der Bronzestatue eines sowjetischen Soldaten vorbei. Oben auf dem Hügel steht er. Sein Blick reicht weit über die Ebene hin zur Oder. Zwischen dem 26. Januar und 3. Februar 1945 durchbrachen dort die Truppen Marschall Schukows die deutschen Stellungen und errichteten die ersten Brückenköpfe am westlichen Ufer des vereisten Flusses. Nach schweren Kämpfen erreichte die 1. Belarussische Front die Seelower Höhen. Der Weg nach Berlin war freigekämpft. Große Verluste auf beiden Seiten. Insgesamt 50.000 Soldaten fielen, krepierten, schrien nach Mutter und Vater, wollten in ihrer letzten Stunde in ihrer Heimat, nicht in fremder Erde sein. Allein zwischen Müncheberg und Berlin stehen 20 Ehrenmale für die sowjetischen Gefallenen, auf fast jedem Dorffriedhof liegen sie.
Am 14. Juni 1945 entschied der Kriegsrat der Sowjetischen Okkupationstruppen mit Befehl Nr. 0120 über Standorte und Aussehen der Mahnmale unter anderem in Küstrin, Seelow und am Berliner Tiergarten. Im Auftrag Schukows sollten entlang der Route des Kampfes Denkmäler errichtet werden. Das für Seelow wurde am 27. November 1945 eingeweiht, auf dem am 16. und 17. April verlustreich erkämpften Hügel an der heutigen B1, der Straße, die direkt nach Berlin führt.
Das Ehrenmal am Berliner Tiergarten wurde am 11. November 1945 mit einer Parade der alliierten Truppen an die Berliner übergeben. Selbstverständlich erklingt aus diesem Anlaß damals die sowjetische Hymne »Wstawaj, strana ogromnaja«. Lange wird diese Gemeinsamkeit nicht halten. Ein »Eiserner Vorhang« trennt die Welt in zwei Lager. Ein politischer Kampfbegriff, mit dem der britische Politiker Winston Churchill in seiner Rede am 5. März 1946 in Fulton, Missouri, die grundsätzlichen Widersprüche und sich schnell entwickelnden Konflikte zwischen kapitalistischem und sozialistischem System beschreibt. Es geht um Macht und Einfluss. Das politische Klima ist danach: In einer Sitzung des 7. Deutschen Bundestages bezeichnet ein CSU-Abgeordneter das Denkmal im November 1975 als »demütigendes Siegerdenkmal«. Erst zehn Jahre später spricht Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes nun endlich und eindeutig von Befreiung von der Nazidiktatur. Da heulen in der BRD die Wölfe im demokratischen Schafsfell laut auf. Ein Großteil der gesellschaftlichen Mitte wird sein Geschichtsbild ändern müssen, was sich bis heute als langwierig erweist. Die Melodie von »Katjuscha« gehörte allerdings inzwischen auch zur westdeutschen Bürgerwelt.
So hart wie verdient
Das 1938 in der Sowjetunion entstandene Liebeslied wurde zum Kriegslied, nachdem am 22. Juni 1941 Deutschland die UdSSR überfallen hatte. Die Beliebtheit von »Katjuscha« während der Kriegsjahre soll auf den Chor einer Moskauer Industriehochschule zurückgehen, der an die Front ausrückende Soldaten im Juli 1941 mit dem Lied verabschiedete. Das Lied thematisiert die Sehnsucht einer jungen Frau nach ihrem Geliebten.
Eine der bekanntesten Adaptionen ist das 1943 entstandene italienische Partisanenlied »Fischia il vento«, nach »Bella Ciao« bis heute das wohl bekannteste italienische Partisanenlied. Auch die griechische Partisanenbewegung übernahm das Lied. Während des Bürgerkriegs 1946 bis 1949 in Griechenland wurde die Katjuscha-Melodie in der Hymne der kommunistischen Widerstandsbewegung EAM gesungen. Während und nach dem Krieg etablierte sich auch eine hebräische Version. In der DDR gehörte Katjuscha zum antifaschistischen Liedrepertoire. Eine weitere Version stammt von dem US-amerikanischen Musiker Nat King Cole. In Westdeutschland wurde es unter anderem von Ivan Rebroff gesungen. Auf das Lied geht auch der Name des sowjetischen Katjuscha-Raketenwerfers zurück.
Generationen von DDR-Bürgern kennen das Lied. Ich frage herum. Eine erinnert sich, dass sie es Mitte der 60er Jahre im Musikunterricht auf russisch gelernt hat, andere an Liederbücher, in denen es stand. Mein Sohn hat es 1988 am Lagerfeuer im Ferienlager gehört. Zum ersten Mal erklang es in Deutschland, als das Alexandrow-Ensemble im Sommer 1948 zwischen Ruinen auf dem Gendarmenmarkt in Berlin gastierte und anschließend in Aue, Weimar, Halle, Leipzig, Chemnitz, Schwerin, Dresden, in den Leunawerken und in der Maxhütte auftrat. Legendär die Auftritte und der Jubel auch. Bei der Vorbereitung auf diese Tournee durch die damalige Sowjetische Besatzungszone (SBZ) fragte Alexandrow deutsche Kommunisten in Moskau, welches deutsche Lied sie singen sollten. Nehmt »Im schönsten Wiesengrunde«, sagten die. Gerade mal drei Jahre nach dem Krieg ist das dort auf dem Gendarmenmarkt ein freundschaftlicher Gruß. Eine große Geste der Russen gegenüber dem ehemaligen Kriegsgegner: »Im schönsten Wiesengrunde / Ist meiner Heimath Haus; / Ich zog zur Morgenstunde / Ins Thal hinaus. (…) Dir mein stilles Thal, / Gruß zum letzten Mal! / Singt mir zur letzten Stunde / Beim Abendschein.« Es ist ihre Kriegsgeschichte, poetisch verkleidet. Eine Verlustgeschichte. Am Ende eine deutsche Geschichte, so gerecht und hart wie verdient. Es wird der erste kleine Stein einer bis heute noch haltenden Brandmauer gegen Russenhass und Kriegshetze sein – im Osten. Im Westen wurde in deutschem Geiste und regierungsamtlich weitergehasst und gehetzt, als hätte es die bedingungslose Kapitulation der Deutschen am 7. Mai im französischen Reims, am 8./9. Mai 1945 in einer ehemaligen Wehrmachtsschule in Berlin-Karlshorst nie gegeben.
Nach dem Krieg residierte hier der Chef der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), vermutlich auch der KGB. 1967 wurde es zum Kapitulationsmuseum. Nach dem Mauerfall und dem Abzug der russischen Truppen entstand daraus 1995 das Deutsch-Russische Museum, heute nur noch Museum Karlshorst. Ein Museum für was? Für Laubfrösche oder wie? Nimm den Dingen ihren Namen und du verformst die Wirklichkeit. Man kann auch Verfälschung sagen. Noch erinnert es als einziges Museum in Deutschland mit einer ständigen Ausstellung an den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Wer es besucht, spürt den Hauch der Geschichte. Fahnen der Alliierten, Dokumente und die Unterschriften. Für das sowjetische Oberkommando unterzeichnete Marschall Georgi Schukow, für die westlichen Alliierten unterschrieben Marschall Arthur Tedder, der französische General Jean-Marie de Lattre de Tassigny sowie US-General Carl Spaatz. Der Zweite Weltkrieg in Europa war damit beendet. Vor dem Reichstag, am Brandenburger Tor und anderswo feierten auch und besonders die Soldaten der Roten Armee ihren Sieg, ihr Überleben, ihre Rückkehr in die Heimat, wo vielleicht eine Katjuscha auf sie wartet. Der 9. Mai bis heute ihr »Tag des Sieges«. Der lange, schwere Weg zum Frieden. Sie tanzen, trinken, weinen, singen, schwenken ihre Fahnen, ritzen ihre Namen, Botschaften und Flüche in die Wände der Reichstagsruine. »Ich war hier« oder »Woina kaputt« ist häufig zu lesen. Menetekel der Geschichte. Architekt Norman Forster lässt sie beim Umbau des Gebäudes restaurieren.
»Die Russen kommen.« Diesen Ruf wird Sonja Striegnitz nicht vergessen. Sie ist neun Jahre alt, mit Mutter und Bruder vor dem Krieg aus Berlin nach Rauen bei Fürstenwalde geflüchtet. Der Krieg kommt nach. Sonja schreibt an ihre Großmutter: »Die Russen sind schon ganz nah, wir hören den Kanonendonner von der Oder.«
Die Leute des Dorfes flüchten mit Sack und Pack und Vieh in die Wälder der Rauener Berge. Ihre kleine Familie bleibt im Ort, drei Tage im Keller, wo sich ihr Vater versteckt. Der Hausbesitzer ein Nazi, Morphinist, mit einer Pistole unterm Kopfkissen, eine Gefahr für alle. Beschuss mit Katjuschas, das Pfeifen der Raketen, die Einschläge. Dann Stille. Leutnant Goldenberg ist der erste Soldat, der in den Keller kommt. »Er sprach ziemlich gut Deutsch. Alle hatten Angst, ich nicht. Er war freundlich … vielleicht wegen meines Vornamens.« Sonja ist die russische Koseform des Namens Sophia. Ihre ersten russischen Worte lernt sie von einer 1917 vor der russischen Oktoberrevolution geflüchteten Emigrantin: »Mily gospodin komendant« (lieber Herr Kommandant). »Starosta« – Bürgermeister: Ihr Vater wird von dem sowjetischen Kommandanten erst ins Kreuzverhör genommen und dann eingesetzt, um für Ordnung zu sorgen im Chaos zwischen Dorfbevölkerung und den durchziehenden Truppen der 1. Ukrainischen Front unter General Konjew.
Bekannt wurde Konjew vor allem durch die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945. Am 16. April eröffnete er wie auch Schukow die Schlacht um Berlin. Auf dem Weg dahin liegt Rauen. »Zwischen 24. und 27. April sind wir befreit worden. Nur damals sagte keiner Befreiung.« Später wird sie diese Zeit immer wie die Spur zum Leben betrachten. Auf jeden Fall lernt sie gern und gut Russisch und studiert an der Humboldt-Universität Geschichte und Slawistik. Nach dem Studium geht sie nach Leningrad, die Stadt, über die die Deutschen das Leichentuch der Belagerung werfen wollten. Hier arbeitet sie an ihrer Dissertation über die Teilnahme deutscher Internationalisten, ehemaliger Kriegsgefangener, an der Oktoberrevolution. Sie lernt »die Russen« kennen, singt ihre Lieder, liebt ihre Kultur, besucht oft die Eremitage, eines der größten und bedeutendsten Kunstmuseen der Welt. Sie schließt lebenslange Freundschaften wie die mit Ludmilla – und schämt sich, dass die DDR-Studenten mehr Stipendium bekommen als ihre sowjetischen Kommilitonen. Heute schämt sie sich für deutsche Politik. »Ich kriege Gänsehaut, wenn hier überall Krieg herbeigeredet wird, als würde dann alles gut. Nichts wird gut oder besser mit Krieg.« Den Einmarsch Putins in die Ukraine findet sie überhaupt nicht gut. »Und immer wieder gießen beide Seiten Öl ins Feuer. Wie soll da Frieden werden?«
Frieden. 80 Jahre ist es her, fast auf den Tag genau. An den 8. Mai erinnert sie sich, weil Salut geschossen wurde – vor allem aber, weil ihre Mutter am 6. Mai Geburtstag hatte. »So viele Blumen! Das war so ein Mai: hell, sonnig, Flieder blühte – das habe ich nie wieder so gesehen. Wir fühlten uns alle frei und froh, besonders wir Kinder. Das war ein Aufatmen …«
Geschichte auslöschen
Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten. Ein Lied in seiner Zeit und noch ein Lied: »Wstawaj, strana ogromnaja« – »Steh auf, du Riesenland«, englischer Titel: »The Sacred War«. Die damalige Kriegshymne der Sowjetunion war ebenso beliebt wie »Katjuscha«. Beide Lieder gehören zum Tag der Befreiung. »Der heilige Krieg« wurde zwei Tage nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion von dem Dichter Wassili Lebedew-Kumatsch geschrieben, am 24. Juni 1941 in der Iswestija veröffentlicht und am 26. Juni 1941 fertiggestellt, vier Tage nach dem deutschen Überfall. Seine Uraufführung erlebte es am Belarussischen Bahnhof in Moskau, wo Freiwillige an die Front verabschiedet wurden. Zunächst wurde es nur selten ausgestrahlt, da es von einem schweren, tödlichen Kampf handelte statt von schnellen, leichten Siegen. Ab Herbst 1941 sendete der sowjetische Rundfunk es jeden Morgen.
Melodie und Text werden die Soldaten der Roten Armee begleiten – über 1.400 Tage und Nächte, auf Tausenden Kilometern durch ihr Land und andere Länder. Durch schwere Kämpfe, Niederlagen und Verluste. Große Schlachten wie Kursk, Stalingrad, Seelow, Berlin. Trauer und Triumph: Westwärts den Feind jagen, zurück nach Deutschland. Bis Berlin. Bis zum Sieg. Wie es im Lied heißt: »Es breche über sie der Zorn / wie finstre Flut herein. / Das soll der Krieg des Volkes, / Der Krieg der Menschheit sein.« Es ist die Stimme der Völker der Sowjetunion. Geschichte und ihre Gedenktage. Gedenktage sind hierzulande gemeinhin Reanimationen angemaßter Größe und siegreicher Kämpfe irgendwann im Teutoburger Wald. Anders der Tag der Befreiung vom Faschismus und der Tag des Sieges im Mai 1945 über Nazideutschland. Sie sind nicht umdeutbar. Bei aller ideologischen Trickserei wird klar: Erinnern ohne Bezugspunkte wird narrative Geschaftlhuberei. Es braucht ein Maß – die ungeschönte, von politischem und persönlichem Pragmatismus freie Wahrnehmung der vergangenen Wirklichkeit. Passt nicht ins Politikgeschäft, wie täglich zu sehen ist. Der Blick zurück muss Ehrlichkeit ertragen. Richard von Weizsäcker sagte 1985 in seiner Rede: »Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge.«
Machen wir es: Heute ist der Tag der Befreiung. Am Abend nach der Kanzlerwahl am Dienstag spricht Carsten Linnemann, CDU-Generalsekretär, in einer TV-Sendung vom »Jahrestag des Kriegsendes«. Lösche die Namen … Natürlich. Das passt. Es gibt ja auch kein offizielles Gedenken. Dafür die polizeiliche Verfügung vom 2. Mai 2025 zur »Beschränkung des Gemeingebrauchs von öffentlichen Flächen und der Versammlungsfreiheit am 8. Mai 2025, 06:00 Uhr, bis zum 9. Mai, 22:00 Uhr, in drei begrenzten Bereichen der Bezirke Treptow-Köpenick, Mitte, Pankow«. Folgendes ist nach Abschnitt g) der Verfügung verboten: Wiedergabe und Aufführung russischer Marsch- oder Militärlieder, insbesondere aller Versionen des Liedes »Heiliger Krieg«! Wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Aha. Da bleibt nur noch der Gegenbeweis: Einfach singen, summen, rezitieren – am besten in Gruppen. Das macht Spaß.
Ebenfalls verboten ist die Fahne der damaligen sowjetischen Befreier – unter dieser Fahne haben sie ihr Land gegen die deutschen Okkupanten verteidigt und 1945 Deutschland und Europa befreit. Ja, das ist nun mal Geschichte – soll die gelöscht werden und die drecksbraune Zeit und die Zeiten danach gleich mit, und die Verbote sind der Anfang für die »demokratischen« Korrekturen der Weltgeschichte? Auf diesen Gedanken kann, nein, muss man kommen.
Burga Kalinowski schrieb an dieser Stelle zuletzt am 22. Februar 2025 eine Reportage aus Märkisch-Oderland: Die Leute von Golzow.
DER HEILIGE KRIEG
Steh auf, steh auf, du Riesenland!
Heraus zur großen Schlacht!
Den Nazihorden Widerstand!
Tod der Faschistenmacht!
Es breche über sie der Zorn
wie finstre Flut herein.
Das soll der Krieg des Volkes,
Der Krieg der Menschheit sein.
Den Würgern bieten wir die Stirn,
Den Mördern der Ideen.
Die Peiniger und Plünderer,
Sie müssen untergehn.
Es breche über sie …
Die schwarze Schwinge schatte nicht
Uns überm Heimatland.
Und nicht zertrete mehr der Feind
Uns Feld und Flur und Strand.
Es breche über sie …
Wir sorgen dafür, dass der Brut
Die letzte Stunde schlägt.
Den Henkern ein- für allemal
Das Handwerk jetzt gelegt!
Es breche über sie …
Musik: Alexander Alexandrow, Gründer des Alexandrow-Ensembles
Text: Wassili Lebedew-Kumatsch
Deutsche Fassung: Stephan Hermlin
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