Ein Fest mit Tränen in den Augen
Von Sergej J. Netschajew
Am 9. Mai wird in unserem Land der 80. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg und der Befreiung Deutschlands und Europas vom Nazismus gefeiert. Für alle Völker der ehemaligen Sowjetunion ist es fürwahr ein heiliges Datum. Der Vernichtungskrieg, den die Nazis gegen die Völker der Sowjetunion vom Zaun gebrochen hatten, riss 27 Millionen Sowjetbürger in den Tod. Mehr als die Hälfte von ihnen waren Zivilisten. Der blutigste Konflikt des 20. Jahrhunderts traf fast jede sowjetische Familie, brachte bittere Not und unermessliches Leid und legte eine Vielzahl von Städten und Dörfern in Schutt und Asche. Als Nachkommen der Sieger stehen wir in der Pflicht, die Erinnerung an die Ereignisse jener Jahre zu bewahren und uns die harten Lehren aus dem Krieg vor Augen zu halten, damit eine solche Tragödie nie wieder passiert. Um an dieser Stelle den Präsidenten der Russischen Föderation zu zitieren: »Nur das Verständnis dafür, welchen Preis unsere Vorfahren bei der Verteidigung ihres Heimatlandes für den Sieg gezahlt haben, kann uns zur Erkenntnis kommen lassen, was uns und unser Land ausmacht.«
Gleichzeitig hat Russland die heldenhaften Leistungen der Sowjetsoldaten und die Opfer, die das Sowjetvolk für den Sieg bringen musste, nie nach Nationalität unterschieden und will das auch heute nicht tun. Der Sieg ist unser gemeinsames Gut und die Erinnerung an die Kriegstoten unser gemeinsamer Schmerz. Angehörige aller sowjetischen Brudervölker standen im Schulterschluss miteinander auf, um die Invasion der Hitler-Horden in ihre Heimat abzuwehren, und begaben sich in den tödlichen Kampf mit dem Feind, ohne das eigene Leben zu schonen. Durchstehen und siegen konnten wir in jenem Krieg nur gemeinsam.
Den Feierlichkeiten anlässlich des 80. Jahrestages des Sieges misst Russland eine außerordentlich große Bedeutung bei. Denen in Deutschland kommt in diesem Kontext ein besonderer Stellenwert zu. Denn hier befinden sich mehr als 4.000 Grabstätten, in denen mehr als 700.000 Sowjetsoldaten ruhen. Wir machen alles Mögliche, um diesen Jahrestag in Würde zu begehen. Die russischen Auslandsvertretungen in Deutschland sind zusammen mit Kollegen aus den diplomatischen Missionen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten dabei, ein umfassendes Veranstaltungsprogramm zu realisieren. Dieses reicht von Gedenkaktionen und Ausstellungen über Konzerte, Filmvorstellungen und andere Kulturevents bis hin zu Bildungs- und Informationsveranstaltungen. Zusammen mit Veteranen, russischen Landsleuten in Deutschland, Angehörigen der Russischen Orthodoxen Kirche und Vertretern aus der deutschen Öffentlichkeit suchen wir sowjetische Grabstätten und Ehrenmale auf, um dort Kränze und Blumen niederzulegen. Auch beteiligen wir uns an der Aktion »Unsterbliches Regiment«, die in mehreren deutschen Großstädten, einschließlich Berlins, stattfinden wird.
Von Herzen danken wir deutschen Gemeinden und Kommunen, dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, freiwilligen Helfern und allen deutschen Bürgern, denen diese Erinnerung teuer ist, für den fürsorglichen Umgang mit den sowjetischen Soldatenfriedhöfen und Gedenkstätten und die Unterstützung, die sie alle leisten, um den Helden ihre Namen zurückzugeben. Während der zahlreichen Gedenkstunden, bei denen in diesen Tagen in verschiedenen deutschen Regionen der Sowjetsoldaten gedacht wurde, konnten wir uns von den freundschaftlichen Gefühlen der einfachen Deutschen überzeugen, die die objektive Erinnerungskultur weiterhin aufrechterhalten.

80 Jahre danach bietet es sich an, zurückzuschauen und zu fragen, mit welcher Bilanz die internationale Gemeinschaft vor dem Gedenktag steht und ob sie die schrecklichen Lehren des Krieges ausreichend beherzigt hat. Mit Bedauern müssen wir feststellen, dass in den letzten Jahren, da immer mehr Zeitzeugen aus dem Leben scheiden, sich immer lautstärker die politischen Kräfte zu Wort melden, die die Ursachen, den Verlauf und die Ergebnisse des Krieges revidieren und den entscheidenden Anteil der Roten Armee und des sowjetischen Volkes an dem Sieg über den Nazismus in Zweifel ziehen wollen. Verdrängt wird die Versöhnung zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Volk nach dem Krieg ebenso wie die Dankbarkeit gegenüber den Menschen in der UdSSR, die den Hass gegen den einstigen Feind ablegten und dem deutschen Volk die Hand zur Freundschaft und zur Unterstützung beim Wiederaufbau reichten. Es ist unfassbar, dass heutzutage in einigen europäischen Ländern Nazis und ihre Helfershelfer als Nationalhelden hochgepriesen, Straßen und Prospekte nach ihnen benannt, Märsche von SS-Veteranen abgehalten und gleichzeitig Denkmäler für Sowjetsoldaten zerstört und die Symbole des Sieges verboten werden.
Es darf nicht passieren, dass die Wahrnehmung der Ereignisse und der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges von der jeweils aktuellen politischen Konjunktur abhängig ist. Diese Botschaft ist um so eindringlicher, als in den westlichen Ländern derzeit dazu aufgerufen wird, sich für einen Krieg gegen Russland zu rüsten. Wir verurteilen diese Rhetorik als unverantwortlich und extrem gefährlich. Russland lehnt entschieden jegliche Versuche ab, die Geschichte zu politisieren und zu instrumentalisieren, die Ergebnisse des Krieges, einschließlich der Urteile des Nürnberger Militärgerichtshofs, zu revidieren, die Rolle des Sowjetvolkes dem Vergessen anheimfallen zu lassen, Henker und Opfer, Angreifer und Befreier gleichzustellen.
Jährlich ehren wir in diesen Tagen das Andenken der Helden, die durch ihre Standhaftigkeit und ihren Mut den gemeinsamen Sieg über den Feind näher brachten. Wir erinnern an den Beitrag der Länder der Antihitlerkoalition zu diesem großen Sieg. Wir ehren das Andenken der Opfer, die in den Kämpfen gefallen sind, in den Konzentrationslagern erschossen und zu Tode gemartert wurden, durch Hunger, Kälte, Verletzungen und Krankheiten starben sowie der Belagerung und der Besatzung zum Opfer fielen. Die vom »Dritten Reich« und seinen Schergen begangenen Verbrechen, die in der Weltgeschichte ihresgleichen suchen und in den Urteilen des Nürnberger Militärgerichtshofes dokumentiert wurden, müssen als Genozid an den Völkern der UdSSR anerkannt werden. Wir rufen den neuen Deutschen Bundestag und die neue Bundesregierung auf, diesen für Millionen Menschen wichtigen Schritt zu machen und somit die historische Gerechtigkeit wiederherzustellen.
Sergej J. Netschajew ist seit 2018 Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland
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