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Aus: Ausgabe vom 08.05.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Tag des Sieges

Von Trauer zu Triumph

Wie sich das Erinnern an den 9. Mai in der Sowjetunion und Russland gewandelt hat
Von Reinhard Lauterbach
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Nicht das typische Bild: Zu großen Straßenfesten kam es am 9. Mai 1945 in Moskau nicht

Am 9. Mai 1945 wurde in der Sowjetunion offenbar überhaupt nicht besonders gefeiert. Anders als in Frankreich oder Italien gab es keine Straßenfeste. Ein Tagesbefehl Stalins und am Abend ein nach Zeugenaussagen ungewöhnlich lang andauernder Artilleriesalut waren alles. Die eigentliche Siegesparade auf dem Roten Platz fand erst am 24. Juni 1945 statt. Immerhin wurde der 9. Mai zum arbeitsfreien Feiertag erklärt.

Das hatte erstens logistische Gründe – die Standarten der deutschen Wehrmacht, die im Juni symbolisch im Moskauer Straßenschmutz landen sollten, mussten ja erst herantransportiert werden –, aber auch politische. Noch gab es die Antihitlerkoalition, und in Asien ging der Krieg der Alliierten gegen Japan noch weiter. Die Sowjetunion hatte sich aus diesem bisher herausgehalten, gedeckt von einem Neutralitätsabkommen aus dem Jahr 1939. Aber mit Rücksicht auf die Koalition mit Großbritannien und den USA – und in dem Bestreben, sich in der Mandschurei zurückzuholen, was Russland im Russisch-Japanischen Krieg 1904/05 verloren hatte – trat die UdSSR in der Schlussphase des Fernostkrieges in diesen ein.

Versehrte omnipräsent

Ursprünglich sollte das Kriegsende nicht am 9. Mai, sondern am 3. September – der Kapitulation Japans – gefeiert werden. Die Entscheidung war aber für die sowjetische Bevölkerung nicht vermittelbar: Der Krieg gegen Nazideutschland hatte ungleich mehr Opfer gefordert und war damit emotional deutlich präsenter – und damit auch geeigneter, die Verbundenheit von Staat und Volk zu demonstrieren. So kehrte die UdSSR Ende 1947 zum 9. Mai als Siegestag zurück – nicht ohne per Dekret des Ministerrats den Charakter des Jahrestages als arbeitsfrei zurückzunehmen.

Der entscheidende Grund dafür, das öffentliche Gedenken an den Sieg über Deutschland zurückzufahren, war aber wohl ein anderer: Die Hinterlassenschaft des Krieges war in Gestalt zahlloser zerstörter Familien und schwerstversehrter Invaliden unübersehbar; die Unterstützung der Hinterbliebenen war äußerst spärlich, eine prothetische Versorgung der Invaliden fand praktisch nicht statt. Hunderttausende Amputierte waren auf selbstgemachte Krücken und hölzerne Rollwägelchen angewiesen. Es war ein Bild des massenhaften Leidens, nicht des Triumphes.

Bis 1965 war der 9. Mai für die Bevölkerung ein Tag mehr oder minder stillen Gedenkens. In russischen Quellen heißt es, die Veteranen hätten den Erinnerungstag in ihren Arbeitskollektiven begangen; Höchstleistungen in der Produktion dürften sie an diesen Tagen eher nicht abgeliefert haben.

Mehr Pomp

Die Wende in der Gedenkpolitik kam erst 1965, zum 20. Jahrestag des Sieges. Im Vorjahr war Nikita Chruschtschow als Parteichef abgelöst worden, und sein Nachfolger Leonid Breschnew ordnete an, nunmehr mit einer großen Militärparade mehr Pomp in das Gedenken hineinzubringen. Zunächst fanden die Paraden nur alle zehn Jahre statt, also nach 1965 wieder 1975 und 1985. Gleichzeitig wurden Denkmäler und Gedenkstätten errichtet: das Grab des unbekannten Soldaten an der Kremlmauer, die Monumentalstatue der »Mutter Heimat« in Wolgograd (dem ehemaligen Stalingrad) und eine 62 Meter hohe Figur ursprünglich gleichen Titels in Kiew. Sie wurde inzwischen der »kommunistischen Symbolik« entkleidet und sollte nun den Krieg für die Unabhängigkeit der Ukraine symbolisieren. Das sowjetische Kino trug mit einer Vielzahl von Kriegsfilmen – beispielhaft sei der Fünfteiler »Befreiung« (1969–1973) genannt – ebenfalls zur Monumentalisierung des Erinnerns bei.

Die Änderung der Gedenklinie war keine rein stilistische. Mit der Ablösung Chruschtschows war auch dessen zumindest öffentlich geäußerte Hoffnung, der Kommunismus sei in erreichbarer Nähe, zu den Akten gelegt. Das Land befand sich nun offiziell auf unbestimmte Zeit im »entwickelten Sozialismus«, und wie der funktionierte, wusste jeder; es brauchte eine neue Integrationsideologie, und der Sieg von 1945 schien dafür geeignet zu sein. Bis das Land 1991 im Gefolge der Perestroika auseinanderbrach. Damals entstand ein Witz – die belarussische Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch schreibt sogar, es sei ein realer Vorfall gewesen: Ein junger Mann sagt einem Kriegsveteranen, der mit ihm für Bier ansteht: »Ihr habt schlecht gekämpft, Großvater. Hättet ihr verloren, könnten wir heute bayerisches Bier trinken.« Der Witz ist geschmacklos und ahistorisch: Bei einem deutschen Sieg hätte von bayerischem Bier für die Russen keine Rede sein können. Aber dass er aufkam, zeigt den Grad der damals herrschenden Verzweiflung.

Schröder zu Besuch

1995 feierte sogar das Jelzin-Russland den 50. Jahrestag des Sieges mit einer Rekonstruktion der Siegesparade von 1945, in der Tausende Veteranen mitmarschierten. 2000 marschierten die Kriegsteilnehmer zum letzten Mal zu Fuß über den Roten Platz, in den folgenden Jahren ersparte man ihnen diese Mühe. 2005 nahm auch eine deutsche Delegation mit ehemaligen Wehrmachtssoldaten an den Feierlichkeiten teil; geleitet wurde sie vom damaligen SPD-Kanzler Gerhard Schröder. Mehr Völkerverständigung war am 9. Mai nie. Damals konnte man sich als Deutscher in Moskau zu den feiernden Veteranen gesellen und wurde freundlich aufgenommen.

Seit 2008 – wohl nicht zufällig ab dem Jahr nach der Rede von Wladimir Putin auf der sogenannten Münchener Sicherheitskonferenz, in der er der einseitigen Hegemonie des Westens den Kampf angesagt hatte – finden die Militärparaden jedes Jahr statt. Unter ihm wurde die Tradition erneuert, die jeweils neusten Modelle moderner Militärtechnik vorzuführen. Oder ihre Prototypen; über ihre Serienreife sagt das wenig aus. Der 2015 erstmals vorgeführte Panzer »Armata« zum Beispiel ist bis heute nur in sehr kleinen Stückzahlen produziert worden und in der Ukraine praktisch nie zum Einsatz gekommen.

Seit 2012 gibt es den Versuch, die persönliche Komponente des Gedenkens unter Berücksichtigung des Zeitablaufs wieder in die Feierlichkeiten zu integrieren. Bei den Märschen des »Unsterblichen Regiments« tragen Angehörige die Bilder sowjetischer Kriegsveteranen durch die Straßen, um ihnen Respekt für den Kampf gegen Nazideutschland zu zollen.

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