Verlorenes Leid – Kriegsgedenken bei Wladimir Wyssozki
Von Reinhard Lauterbach
Die Quellen nennen den 22. Juni 1963, den 22. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, als Datum des ersten öffentlichen Vortrags eines der berühmtesten Lieder von Wladimir Wyssozki: »An den Massengräbern« (Na bratskich mogilach). Über einem hart geschlagenen Gitarrenbeat der Text: »Im ewigen Feuer kann man alles sehen / explodierende Panzer, brennende russische Katen / das brennende Smolensk und den brennenden Reichstag / Das brennende Herz des Soldaten / An den Massengräbern gibt es keine verheulten Witwen / Wer hierher kommt, ist stärker / Auf Massengräbern stellt man keine Kreuze auf / Aber wird es davon etwa leichter?« Private Trauer und öffentliches Gedenken werden klar als zwei unterschiedliche Sphären benannt und als gleichwertig dargestellt – wobei die Schlusszeile zeigt, welche der beiden Haltungen dem lyrischen Ich nähersteht.
1963 war die Spätphase des Chruschtschowschen Tauwetters. Aber es wäre wohl überinterpretiert, darin oppositionelle Noten aufspüren zu wollen. Es war der Zeitgeist jener Jahre. Bis Mitte der 1960er Jahre war im sowjetischen Kriegsgedenken der private Aspekt zumindest gleichrangig mit dem patriotischen. Schon »Finstere Nacht« (Tjomnaja notsch), 1943 erstmals in einem sowjetischen Spielfilm vorgetragen, ist im Grunde das Liebeslied eines im Schützengraben hockenden Rotarmisten an seine zu Hause das gemeinsame Kind betreuende Liebste: »Ich fürchte den Tod nicht, habe ihm nicht nur einmal ins Auge gesehen. Aber der Gedanke daran, dass Du auf mich wartest, hält die Kugeln von mir ab.« Das Lied ist ein sowjetischer Soldatenblues, der von der Hoffnung auf Heimkehr erzählt; und es ist bis heute beliebt: Es gibt Jazz- und Salsavarianten davon. Wahrscheinlich wird auch mancher heutige Soldat sich in diesem Song wiederfinden. Öffentlich gespielt wird heute aber eher das düstere »Steh auf, du Riesenland, steh auf zum heiligen Krieg«. Auf der diesjährigen Parade sicher auch wieder.
1969, also ein paar Jahre nach der Wende der sowjetischen Gedenkpolitik ins Monumentale, schrieb Wladimir Wyssotzki den Song »Vorfall im Restaurant« (Slutschaj v restorane). Aus diesem Jahr ist jedenfalls die älteste im Internet auffindbare Aufnahme. Der Erzähler sitzt in einer Kneipe mit einem Hauptmann zusammen, trinkt mit ihm und muss sich eine Standpauke über die »heutige Jugend« anhören: »Als ich so alt war wie du, war ich Gefreiter vor Kursk – und du Dreckskerl sitzt hier herum und säufst. Stell du dich erst mal vor die Panzer, bevor du mir was erzählst.« Der dialektische Umschlag kommt in den letzten beiden Versen: »Er wurde immer betrunkener, ich hielt mit ihm Schritt / Nur ganz am Schluss des Gesprächs habe ich ihn beleidigt, / als ich sagte: ›Hauptmann, aus dir wird nie ein Major.‹«
Neuerdings wird dieses Lied im russischen Internet als unpatriotisch angegriffen. In einem Diskussionsforum zum Verständnis literarischer Texte schreiben Leute, dieser Wyssozki habe sich selbst aufgrund seiner Beziehungen vor der Armee gedrückt, Drogen genommen und sei ins Ausland gereist. Wie könne so jemand einen Veteranen verspotten? Dem Klassiker des sowjetischen Chansons kann es egal sein, er ist lange tot. Aber die Kommentare zeigen, wie sich in Russland das Klima geändert hat.
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Leserbrief von Dr. Axel Stammler aus Berlin (11. Mai 2025 um 20:54 Uhr)Danke für diesen sehr informativen, aber auch jede emotionale Abgestumpftheit zerreißenden Artikel in Erinnerung an einen Künstler, dessen Werk das Gegenteil eben dieser Abgestumpftheit verkörpert. Mein Wunsch: Von Euch ein zweisprachiges Buch beziehen können, das sämtliche seiner Texte auf Deutsch zum jeweiligen Original gesellt, mit einer Gesamtaufnahme seiner Lieder.
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