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Aus: Ausgabe vom 24.05.2024, Seite 2 / Inland
Recht und Freiheit

»Dieses Recht unterliegt politischer Willkür«

75 Jahre Grundgesetz: Linke sieht Versammlungsrecht und Meinungsfreiheit in Gefahr. Repression gegen Proteste. Ein Gespräch mit Ferat Koçak
Interview: Annuschka Eckhardt
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Politischer Wille steht momentan über dem Versammlungsrecht (Berlin, 18.5.2024)

Im Berliner Regierungsviertel werden anlässlich der Feierlichkeiten zum 75. »Geburtstag« des Grundgesetzes Deutschlandflaggen gehisst. Das Establishment der BRD feiert sich selbst. Wie wird der Grundgesetztag in Neukölln begangen?

Wir müssen hinterfragen: Gilt das Grundgesetz für jeden? Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und dem Faschismus entstanden – und das heißt: auch aus den Erfahrungen des Holocausts und der systematischen Ermordung von Juden sowie von Sinti und Roma, von politischen Gegnern der Nazis wie Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten, von Menschen mit geistiger Behinderung, und auch Homosexuellen. Was aktuell in der BRD passiert: Roma werden massenhaft abgeschoben, und Jüdinnen werden hierzulande daran gehindert, sich politisch zu äußern. Jüdischen Organisationen werden Bankkonten gesperrt, jüdische Künstlerinnen werden ausgeladen, jüdische Wissenschaftlerinnen werden mundtot gemacht. Menschen, die sich zudem zur Besatzung und zum Krieg in Palästina äußern, sind Repressionen ausgesetzt. Doch Artikel 1 des Grundgesetzes sagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Mit den Asylrechtsverschärfungen sehen wir, wie die Ampelregierung – offiziell die Verteidigerinnen der Grundrechte und des Grundgesetzes – gegen das Grundgesetz verstößt.

Recht auf Versammlungsfreiheit – wie viel zählt es momentan in der Praxis, dass dieses Recht im Grundgesetz verankert ist?

Zuletzt bei den Gedenkprotesten zur Vertreibung der Palästinenser zur Nakba (Katastrophe, jW) wurde über Wochen hinweg die Versammlungsfreiheit zu diesem Thema eingeschränkt. Da sehen wir, dass dieses Recht mittlerweile der politischen Willkür unterliegt und einigen Menschen verboten wird. Die Polizei setzt diese Verbote dann mit Brutalität um. Das ist ein Demokratiedefizit. Hinzu kommt, dass auch das Thema der Gewaltenteilung im Grundgesetz in dem Zusammenhang unter Beschuss steht.

Wieso das?

Wenn die Innenministerin und die Innensenatorin entscheiden, wie das Grundgesetz und vor allem die Versammlungs- sowie die Meinungsfreiheit ausgelegt werden – und nicht die Gerichte –, dann haben wir ein großes Problem. Da müssen wir dagegen halten. Ganz oben steht die Kritik daran, dass das Grundgesetz nicht für alle Menschen gilt.

Es ist nicht statisch, sondern wird häufig verändert. Auch die 100 Milliarden Euro »Sondervermögen« für die Bundeswehr wurden dort hineingeschrieben. Was halten Sie von solchen Änderungen im Grundgesetz?

Ich halte es für gefährlich, wenn das Grundgesetz so verändert wird, dass parteipolitische Ziele auf einmal im Vordergrund stehen. Das Grundgesetz ist ja auch dafür geschaffen, um Frieden zu wahren, und nicht, um ein Säbelrasseln in Europa weiterzubefördern. Indem hier ein Veteranentag eingerichtet wird und 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr »investiert« werden, wird ein Konflikt geschürt. Das ist keine Friedenspolitik im Interesse des Grundgesetzes, sondern es sind Schritte in Richtung Kriegstüchtigkeit.

Dieses Grundgesetz konnte weder den Ausverkauf der Infrastruktur noch einen krassen Rechtsruck verhindern. Sollten Linke es trotzdem feiern?

Wir haben in den letzten Jahren sehr viele Rückschläge erlebt. So wurde beispielsweise vom Berliner Senat der Volksentscheid »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« bis heute nicht umgesetzt, obwohl sich die Forderung nach Vergesellschaftung großer Immobilieneigentümer auf ein im Grundgesetz verankertes Grundrecht beruft.

Ich glaube, es ist wichtig, dass wir feiern, wofür wir stehen. Und wir als Neuköllner Linke stehen dafür, dass Menschen in Freiheit leben können, ohne Angst vor Krieg haben zu müssen. Was wir feiern sollten: Wenn wir es geschafft haben, dass die Gesellschaft frei von Rassismus ist und alle Menschen sich hier auch gleich behandelt fühlen.

Sie waren in letzter Zeit oft als parlamentarischer Beobachter auf Demos unterwegs. Haben auch diese Eindrücke Ihnen die Feierlaune verdorben?

Ich habe dort vor allem erlebt, dass mit brutaler Polizeigewalt politische Ziele durchgesetzt wurden. Menschen wurden mundtot gemacht und das Grundgesetz mit Füßen getreten. Allein deshalb haben wir aktuell nichts zu feiern.

Ferat Koçak ist Sprecher für antifaschistische Politik, Strategien gegen rechts und Klimapolitik der Fraktion Die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Manfred G. aus Manni Guerth (24. Mai 2024 um 06:00 Uhr)
    Ein sogenanntes Grundgesetz was erlaubt, das Volk von politischen Entscheidungen auszuschließen, das ermöglicht eine Parteidiktatur zu etablieren, das erlaubt mittels Korruption politische Entscheidungen gegen das Volk herbeizuführen, das erlaubt Krieg und Armut zu erzeugen, das erlaubt das Volk politisch zu belügen und zu betrügen, das brauche ich nicht. Was ich brauche ist eine Verfassung die das Volk als politischer Entscheidungsträger, ohne Zensur und Lobbyismus, benennt und das Volk an erster Stelle stellt und nicht die Kapitaleliten.

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