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Aus: Ausgabe vom 30.03.2024, Seite 8 / Inland
Friedensbewegung

»Die Bevölkerung soll weichgeklopft werden«

»Kriegstüchtigkeit« bedeutet auch, dass Militarismus wieder popularisiert wird. Ein Gespräch mit Willi van Ooyen
Interview: Kristian Stemmler
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Müssen dranbleiben: Teilnehmende eines Ostermarsches in Frankfurt am Main fordern sofortigen Frieden (10.4.2023)

Die Ostermärsche finden in diesem Jahr vor dem Hintergrund des andauernden Kriegs in der Ukraine, der Eskalation in Gaza und der Militarisierung hierzulande statt. Ist die Lage ernster als früher?

Das kann man einerseits durchaus so konstatieren. Andererseits ist es auch so, dass wir seit 25 Jahren immer wieder Kriege hatten, die bei den Ostermärschen Thema waren. Im Kosovo zum Beispiel 1999, 2001 in Afghanistan oder der Irak-Krieg 2003. Die Ostermarschbewegung musste immer auch darauf reagieren, was real in der Welt an Kriegen passierte.

2003 zum Beispiel hatte die deutliche Mehrheit der deutschen Bevölkerung den Krieg im Irak abgelehnt.

Ja, das ist heute eine neue Situation. In der öffentlichen Wahrnehmung hat sich viel geändert. Wir haben früher eine andere Resonanz gehabt. Auch die Position der jetzigen Bundesregierung zu den aktuellen Kriegen ist ja eine andere als die Position der damaligen Regierung zum Krieg gegen den Irak. Dass das Land »kriegstüchtig« werden soll, ist ja nicht nur eine mal zufällig hingesagte Parole, sondern es wird tatsächlich auch alles dafür getan, um die Bevölkerung auf Kriege und weitere Militarisierung einzustimmen. Da ist ein systematisches Vorgehen zu erkennen. Alle politischen Versprechen – Stichwort: mehr Investitionen in Bildung, mehr Geld für Soziales – werden jetzt zur Disposition gestellt. Wir erleben eine sehr grundsätzliche Umorientierung der Bevölkerung auf militaristische Positionen. Es gibt eben eine breite Einheitsfront für Aufrüstung und militärische Optionen, von kriegslüsternen Grünen und SPD-Politikern wie Michael Roth bis zur AfD.

Auch über die Möglichkeit eines Angriffs Russlands auf NATO-Staaten wurde bereits spekuliert. Wie sehen Sie das?

Die Gefahr sehe ich nicht, und die sehen auch rational denkende Militärs nicht. Manchmal bin ich beeindruckt, dass ehemalige oder sogar aktive Militärs das Kriegsgeschehen durchaus realistischer betrachten, sich sogar für Abrüstung und internationale Kooperation einsetzen. Ich glaube, dass mit solchen Spekulationen die Kriegsangst der Bevölkerung geschürt und sie weichgeklopft werden soll, um Aufrüstung und Militarisierung zu akzeptieren.

Wer heute einen Waffenstillstand oder Friedensverhandlungen fordert, wie etwa der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich im Fall der Ukraine, wird sofort niedergemacht.

Das ist eines der großen Probleme, die wir haben: Jeder, der sich für vernünftige friedenspolitische Positionen einsetzt, bekommt sofort Druck zu spüren. Wer sich für Waffenstillstand und gegen Waffenlieferungen ausspricht, der wird in die Ecke gedrückt.

Hat der neue Krieg in Gaza auch Spaltungen in die Friedensbewegung getragen?

Das glaube ich eher nicht. Ich glaube, dass sich in der Friedensbewegung die Forderung nach einem Waffenstillstand, wie sie jetzt auch von der UNO beschlossen wurde, und das sofortige Verhandeln als Grundposition zu diesem Konflikt gefestigt haben.

Gerät die Friedensbewegung angesichts der medial befeuerten Stimmung im Lande nicht immer mehr in die Defensive?

Selbstverständlich haben wir nicht mehr die Zustimmungswerte zu friedenspolitischen Positionen wie in den 1980er Jahren, als manchmal die Hälfte eines ganzen Jahrgangs den Kriegsdienst verweigert hat. Davon sind wir weit weg und da muss die Friedensbewegung sehr viel daran arbeiten, dass wir wieder diesen gesellschaftlichen Einfluss für vernünftige friedenspolitische Positionen zurückgewinnen.

Es stimmt ja vielleicht ein wenig optimistisch, dass immerhin mehr als die Hälfte der Bevölkerung nicht will, dass Marschflugkörper an die Ukraine geliefert werden.

Ja. Es wird immer augenfälliger und klarer, dass Kriege keine Lösungen bringen werden. Und insofern kommen die Ostermärsche mit ihren mehr als 120 Veranstaltungen zum richtigen Zeitpunkt. Die Quantität ist dabei gar nicht der entscheidende Punkt, sondern dass wir in der Fläche präsent sind und mobilisierungsfähig bleiben. Die Forderung nach Frieden muss wieder einen Platz in der Republik haben. Wir müssen in der Gesellschaft verlorenen Boden zurückerobern.

Willi van Ooyen ist Kosprecher des Kasseler Friedensratschlags

Infos unter: kurzelinks.de/Ostermarsch-2024

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  • Leserbrief von Roland Winkler aus Aue (2. April 2024 um 14:04 Uhr)
    Deutschen Medienleuten und Journalisten sollte die Geschichte der Ostermärsche nicht ganz unbekannt sein. Wenn in Chemnitz ein Journalist zur Ostermarschkundgebung einen aktiven Friedensfreund die Frage stellt, wie zeitgemäß diese Friedensbewegung noch sei, dann sagt das viel über die Politik der sogenannten Zeitenwende aus. Wenn eine Außenministerin einen Kommentar zu Ostermärschen abgibt, der nichtssagender nicht sein könnte und die Kriege in der Ukraine und Nahost nur interessengesteuert, nach zweierlei Maß erwähnt, vor Einseitigkeit, gegenseitigem Ausspielen warnt, ist auch das armselig, ahnungslos und friedensfeindlich. Wann könnten leider nach mehr als 65 Jahren Ostermarsch der Friedensbewegung, gegen atomare Aufrüstung und Kriege zeitgemäßer sein als heute? Wo lebt deutsche Politik oder besser gesagt, wie ernst haben sie von Grün bis Rot und Gewerkschaften jemals friedensbewegte Menschen und Völker genommen?
    Wann war die Atomkriegsgefahr je so real und bereits zu riechen, wie dieser Tage? Wann hat eine deutsche Regierung jemals in Vergangenheit jede Diplomatie, Verhandlungen ausgeschlossen und einseitig auf Sieg über Russland mit aller und jeder Konsequenz gesetzt, jedes Risiko bewusst eingehend und den großen Krieg provozierend? Wer sieht zu, wie in Nahost ein ganzes Volk in den Genozid getrieben wird. Wer will nichts wissen davon, was seit Zwei-plus-vier-Vertrag 1990, einseitiger Kündigung von Abrüstungsverträgen, militärischer Einkreisung Russlands, Beginn des Krieges gegen den Donbass 2014, aller Angriffskriege seit Jugoslawien März 1999 u. v. m. zu der heutigen Gefahr geführt hat? Wer will uns glauben machen, alle Völker, Deutsche, Israelis, Palästinenser, Ukrainer, Russen wollten keinen Frieden? Wer treibt in wessen Interessen in die Kriege? Wer strebt nach Weltherrschaft und meint, Friedensdemonstrationen seien nicht zeitgemäß?
    • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (3. April 2024 um 10:42 Uhr)
      Sehr geehrter Herr Winkler, ich halte die Mainstreammedien und die dort im Politikbereich tätigen Journalisten noch für weit gefährlicher als die Politiker. Konkret halte ich eine sich seriös gebende Sendung wie die Tagesschau, in der in einem Objektivität vortäuschenden Tonfall, durch Weglassen und Wording stets die Regierungspolitik und die Russophobie geschürt werden, für hoch gefährlich. Im Journalismus etwas für die Information der Bevölkerung Wichtiges über Jahre, ja sogar Jahrzehnte unerwähnt zu lassen, ist eine besonders perfide Lüge, weil man ja nichts Falsches gesagt hat. Bei Politikern, wie einer Strack-Zimmerman weiß man, was das für ein Typ ist, dass da auch ganz andere Interessen mit im Spiel sind, wenn sie etwas äußern. Niemand wird sich jeden Tag deren Reden und Statements anhören. Ohne eine Plattform, die das an die Bevölkerung vermittelt, wären die schon eingeschränkt in ihrer Macht. Aber Tagesschau schauen eben viele Menschen jeden Tag. Unlängst sickerte durch, wie den Mitarbeitern der Nachrichtensendungen der ARD bestimmte Formulierungen – nein, nicht vorgeschrieben – sondern empfohlen wurden. Dies geschah nicht von Vorgesetzten, sondern von einer beratenden Kommission der Journalisten – alles ganz »harmlos und unverfänglich«, in freier Entscheidung von ihnen selbst kommend. Wer auf welchen Wegen in diese Kommission gelangte und auf welchen Wegen seinerseits »Empfehlungen« erhält, wurde nicht gesagt. Es ging um den Krieg in Gaza. Die Empfehlungen für die Formulierungen rechtfertigten durchgehend das Vorgehen Israels und stellten es maximal positiv dar. Die Tagesschau erweckt nur den Anschein, objektiv zu berichten und die Vorgaben der Parteiferne für die öffentlichen Sender einzuhalten. Falls Deutschland in einen Krieg mit Russland rutscht, dann haben die Journalisten einen ebenso großen Anteil daran wie bei der Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges. Man muss diesen Beruf nicht ausüben und sich mitschuldig machen.
  • Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (2. April 2024 um 14:01 Uhr)
    Offenbar haben wir nun schon mindestens fünf Kriegsvorbereitungsminister: Frau Baerbock (in der psychologischen Kriegsvorbereitung sehr eifrig, wenn auch talentlos), Herrn Habeck (rüstungswirtschaftliche Vorbereitung), Herrn Pistorius (direkte Kanonenfuttervorbereitung), Herrn Lauterbach (für die medizinische Vorbereitung des »Kampfes für die Freiheit« mit endlich auch eigenen Toten und Verletzten) und Frau Watzinger (für den Kanonenfutternachwuchs). Doch einen Friedenserhaltungsminister haben wir bisher nicht. Olaf Scholz will es Biden recht machen, der kann das auch nicht, solange Biden »Mr. Ukraine« bleibt. Könnte Rolf Mützenich einer sein? Aber einer gegen fünf? Das wird wohl nix, solange die SPD-Basis und das deutsche Volk weiter schläft.

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