Zur Gaza-Solidaritätsflottille im vergangenen Jahr ist vieles geschrieben worden. Das neue Buch aus dem Laika-Verlag, das eine vielstimmige Sammlung von Texten zum Thema darstellt, ist dennoch oder vielleicht gerade deshalb sehr wichtig. Faßt es doch Texte mit unterschiedlichen Zugängen zusammen und ist so ein hervorragendes Dokument, um die Hintergründe und die Folgen des Angriffs auf die Schiffe und die Aktivisten am 31. Mai 2010 zu verstehen.
Ursprünglich erschien das Werk, das von Moustafa Bayoumi herausgegeben wurde, Ende 2010 in den Vereinigten Staaten. Der Hamburger Laika-Verlag verantwortet nun die deutsche Ausgabe. Und ihr Erscheinen fällt in eine Zeit, in der die Verleumdungen um die Teilnehmer, die Initiatoren und die Ziele der Flottille überhandnehmen.
Den Verleumdungen werden in diesem Buch Tatsachen entgegengesetzt. Und diese sprechen eine deutliche Sprache. Ausgehend von der Realität der Abriegelung des Gazastreifens, die schon durch die Liste der Einfuhrverbote in ihrer ganzen grotesken Brutalität deutlich wird, über die Darstellung israelischer Positionen zur Flottille bis hin zu den besonders eindrucksvoll zu lesenden Zeugenaussagen der Beteiligten zu Beginn des Buches ist eine runde Sache daraus geworden. Das Buch macht noch einmal klar, was die Ziele und was der Ablauf der Aktion gewesen sind und mit welcher Brutalität die israelische Armee in internationalen Gewässern gegen offenkundig unbewaffnete Bootsbesatzungen vorgegangen ist. Es ist damit eine gute Ergänzung zum UNO-Bericht, der im Melzer-Verlag in deutscher Sprache erschienen ist.
Bekannten Autoren wie Henning Mankell, Moshe Zuckermann, Ilan Pappé oder Norman Finkelstein stehen zumindest in Deutschland eher unbekannte zur Seite, die allesamt einen wichtigen Beitrag zum Thema leisten. Dabei fällt es in den meist kurzen Texten auch kaum ins Gewicht, daß sich viele Aspekte wiederholen. Gut ist dabei, daß die oft problematische Fokussierung auf einen Vergleich Israels mit Nazideutschland, der nicht nur in der deutschsprachigen Solidaritätsliteratur immer wieder gezogen wird und auf den sofort reflexartig reagiert wird, hier durch die etwas andere Perspektive kaum vorkommt. Vergleiche mit dem Apartheidregime in Südafrika oder der Rassentrennung in den Vereinigten Staaten und dem Kampf der Bürgerrechtsbewegung sind passender, eindrucksvoll und sollten in großen Teilen zumindest die amerikanische Öffentlichkeit (aber nicht nur sie) zum Nachdenken anregen.
Dahingehend kann der Beitrag der schwarzen US-amerikanischen Aktivistin und Autorin Alice Walker als beispielhaft verstanden werden. Sie beschreibt, wie die einfache Menschlichkeit bewegen kann, und führt die Geste des französischen Botschafters in Kairo als Beispiel an, nachdem der Versuch der Organisation »Code Pink« fehlgeschlagen war, Hilfsgüter nach Gaza zu bringen. Der Botschafter wollte den Protestierenden – seinen Landsleuten – die Situation so angenehm wie möglich machen und verließ die Botschaft, um mit ihnen darüber zu sprechen. Solche Aktionen haben eine Wirkung, die Walker mit Rosa Parks berühmter Gesetzesüberschreitung aus dem Jahr 1955 vergleicht. Damals war die schwarze Bürgerrechtlerin im Bus entgegen den Vorschriften sitzen geblieben, obwohl ein Weißer beanspruchte. Sie hätte nach dem Gesetz aufstehen müssen. Es war ein kleiner Akt mit großer Wirkung, zu dem wir als Menschen letztlich alle fähig seien, argumentiert Walker. »Es ist an der Zeit, daß wir uns en masse vor unserem Gewissen versammeln und uns vor den einzigen Bus setzen, den wir haben: unser eigenes Leben.« Die Wirkung von solchen bewußten Grenz- und Gesetzesüberschreitungen ist nicht zu unterschätzen. Sie sind ein Weg, eindrucksvoll auf das Problem aufmerksam zu machen und Israel die Legitimität für die Blockade zu entziehen.
Aufgrund der Irrationalität insbesondere auf seiten der Israelis ist sicher die Frage, ob das reicht. Moshe Zuckermann weist zurecht darauf hin, daß es problematisch ist, sich mit der israelischen Armee auf einen Konflikt einzulassen. Allein aufgrund der ausweglosen Situation, den Knoten im Konflikt auf legale Weise zu lösen, sind Überschreitungen der legalen Grenzen – und handelt es sich auch nur um von den Israelis willkürlich gesetzte Grenzen – ein wichtiger Bestandteil der Politik, um weiter voranzukommen.
So dokumentiert das Buch in seinen meist kurzen und einfach zu lesenden, zum Teil dennoch hintergründigen, zu anderen Teilen anrührenden persönlichen Texten zwar viele Stimmen, die Richtung ist aber klar. Ob Türken, Amerikaner, Israelis, Deutsche oder Palästinenser. Die Beiträge im Buch eint ihre solidarische Position für den Frieden, für die Ziele der Gaza-Flottille. Nach den langen Jahren der Auseinandersetzung ist es eigentlich absurd, aber das, was Bayoumi in seiner Einleitung schreibt, muß immer wieder gesagt werden: »Die Lösung des Konflikts zwischen diesen beiden Völkern unter Wahrung von Gerechtigkeit und Gleichberechtigung würde mehr als die Interessen von Israelis und Palästinensern voranbringen. Sie hätte auf eine Weise, in der es die Lösung keines anderes Konfliktes auf der Welt heute sein könnte, rund um den Globus bedeutsame positive Auswirkungen.« So weit, so gut. Leider kann der Herausgeber den Gedankengang nicht so enden lassen, sondern mit dem folgenden Satz: »Die Frage ist, wie diese Lösung gefunden und umgesetzt werden kann.« Die besagte Flottille und ihre Verteidigung in diesem Buch sind zumindest ein Mosaikstein auf dem Weg zur Lösung.
Moustafa Bayoumi (Hg.): Mitternacht auf der Mavi Marmara - Der Angriff auf die Gaza-Solidaritäts-Flottille. Edition Provo 2, Laika Verlag, Hamburg 2011, 364 Seiten, 19,90 Euro