Was Kallas nicht weiß
Von Hauke Neddermann
Wenn die Außenbeauftragte der EU, Kaja Kallas, auf einem Podium Anfang September verkündet, es sei ihr völlig neu, dass China auf eine Vergangenheit als Kämpfer gegen Faschismus und Militarismus im Zweiten Weltkrieg zurückblicke, auch noch in Waffenbrüderschaft mit der Sowjetunion, dann ist das symptomatisch. Im »Westen« sind Chinas Opfer ebenso verdrängt worden wie sein teuer erkaufter Sieg. Die geopolitische Interessenlage der Gegenwart hat die Geschichte überwuchert und ihre Widersprüche verschlungen: Wer heute als Feind gilt, soll immer Feind gewesen sein.
Als im Mai 1945 der Krieg in Europa mit der Kapitulation der Nazis zu Ende ging, tobte er an der asiatischen Front noch monatelang weiter. Selbst nach dem V-J-Day (Victory over Japan Day) am 15. August, als Berlins japanischer Verbündeter die eigene Niederlage einräumte, kehrte kein Frieden ein. Erst am 9. September streckte die japanische Armee in China die Waffen. Bis dahin hatte ihr Mord- und Raubzug, begonnen vierzehn Jahre zuvor mit der Eroberung der Mandschurei, zwischen 20 und 35 Millionen Chinesen das Leben gekostet.
Faschistische Besatzung
1931 besetzten die Japaner, unter dem Vorwand einer Antiterrorintervention, Nordchina und errichteten einen Marionettenstaat. Für China setzten sich damit unheilvolle Muster eines Jahrhunderts kolonialer Entmachtung fort: Immer wieder inszenierten die japanischen Angreifer »Zwischenfälle«, immer wieder folgten »Strafaktionen«. 1932 wurden Shanghai und einige Nachbarorte bombardiert, 1933 die Provinz Rehe erobert. Am 7. Juli 1937 begann – und wie immer behaupteten die Kriegstreiber, bloß »zurückzuschießen« – die Vollinvasion: Innerhalb weniger Wochen fielen Beijing und Tianjin, nach monatelangen Kämpfen auch Shanghai. Ende 1937 marschierten Tokios Truppen in Nanjing ein. Bis Anfang der 1940er Jahre unterjochten die Angreifer so rund ein Viertel des chinesischen Territoriums (auf dem ein Drittel der Bevölkerung ansässig war) und schnitten das Hinterland von den Industriezentren an der Ostküste ab. China war in den eisernen Griff des japanischen Faschismus geraten.
Dessen Kaiserliche Armee überrollte die eroberten Gebiete als gewaltige Vernichtungsmaschinerie. Hunderttausende Menschen wurden versklavt oder verschleppt. Mancherorts wurden Gefangene für grausame Experimente missbraucht, rund 300.000 Menschen starben allein durch die pseudowissenschaftlichen Menschenversuche und Biowaffentests der berüchtigten »Einheit 731«. Wo die Besatzer Widerstand vermuteten, hinterließen sie verbrannte Erde. Schon 1932 löschten sie das Dorf Pingdingshan aus, Hunderte, vielleicht Tausende Bewohner verscharrten sie in Massengräbern. In Changjiao metzelten sie mehr als 30.000 Zivilisten nieder. Die Liste genozidaler Massaker ist lang. Nirgends aber wüteten die Japaner wie in Nanjing. Die einst stolze Hauptstadt der chinesischen Republik verwandelten sie in ein Schlachthaus: Hunderttausende Unbewaffnete wurden erschossen, erstochen, verbrannt, Zehntausende Frauen vergewaltigt und verstümmelt, Kinder und Alte erschlagen. Durch die Straßen, werden Augenzeugen später berichten, sei das Blut in Rinnsalen geflossen.
Im Widerstand vereint
In düsterer Vorahnung hatte die Kommunistische Partei das chinesische Volk keine 24 Stunden nach Beginn des japanischen Großangriffs im Sommer 1937 zum gemeinsamen Widerstand aufgerufen. Chiang Kai-sheks Nationalregierung zögerte einen ganzen Monat, bevor sie sich zur Gegenwehr durchrang. Zwar fanden beide Seiten unter dem Druck des Verteidigungskrieges zur Einheitsfront zusammen, doch blieb das Bündnis brüchig. Während die Truppen der Nationalregierung in großen Schlachten aufgerieben wurden, operierten die Kommunisten in kleinen, beweglichen Guerillaverbänden hinter den feindlichen Linien. Und im September 1937 war es eine Feldarmee der Kommunisten, die einen frühen Sieg erkämpfte. Chiang Kai-shek hingegen ließ, in einer katastrophalen Fehlentscheidung, die Deiche des Gelben Flusses sprengen, um die vorrückenden Japaner aufzuhalten: Bis zu 900.000 Chinesen starben infolge der sinnlosen Flutung. Die japanischen Vernichtungskrieger hielt das kaum auf.
Praktische Solidarität erfuhr das geschundene Land in den ersten Kriegsjahren vor allem aus Moskau. Im Überlebenskampf gegen die faschistische Barbarei waren China und die Sowjetunion aufeinander angewiesen: Die UdSSR stellte ihrem Nachbarland ab Sommer 1937 rund 1.200 Flugzeuge (und eine Flugzeugfabrik) zur Verfügung, außerdem Bomben, Panzer, Artillerie, Munition, und entsandte Tausende Piloten sowie Techniker zur Unterstützung der chinesischen Luftwaffe. Währenddessen war es Chinas Verdienst, dass die Sowjetunion nach dem deutschen Überfall 1941 nicht von zwei faschistischen Mächten in die Zange genommen wurde und in einen mörderischen Zweifrontenkrieg geriet. Der Westen hielt sich in China zurück, seine Aufmerksamkeit galt dem europäischen Kriegsschauplatz. Erst als die USA durch den japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 in den Pazifikkrieg hineingezogen wurden, wurde China auch in London und Paris als entscheidender Verbündeter anerkannt. Eine Allianz, die den Sieg brachte: Als die Sowjetunion im Sommer 1945 mit der Befreiung der Mandschurei begann und die USA ihren Luftkrieg gegen japanische Städte verschärften, nicht zuletzt durch den Abwurf zweier Atombomben, blieb Tokio nur die Kapitulation. Der japanische Faschismus war besiegt worden – auch durch Chinas Widerstand.
Chinas »Nie wieder!«
Während diese Geschichte des Menschheitskampfes gegen den Faschismus von den Repräsentanten des »Westens« wie Kaja Kallas vergessen oder opportunistisch ad acta gelegt wurde, ist sie in der Volksrepublik höchst gegenwärtig: In kaum einem nordchinesischen Dorf fehlt der lokale Gedenkort für die Helden des antijapanischen Widerstands, die Orte faschistischer Unterdrückung wurden in antifaschistische Bildungszentren verwandelt. In Harbin erinnert seit zehn Jahren ein hochmodernes Museum an die Opfer der »Einheit 731«. Und in Nanjing hat man für die Ermordeten in den 1980er Jahren eine gewaltige Gedenkstätte errichtet. In meinem Arbeitsjournal stoße ich auf einen kurzen Eintrag, datiert auf den Tag meines ersten Besuches dort: »im museum für die hunderttausenden, die während des nanjing-massakers ermordet wurden, ist der schmerz, für den es im überleben keinen raum gab und keine kraft, in stein verewigt. die gedenkstätte, erbaut auf einem massengrab, ist auch ein ort der einkehr. ein friedhof. vor unzähligen tafeln legen menschen weiße blumen ab, viele verbeugen sich, eine ältere frau weint, ein junge will auf den arm seiner mutter, jede tafel erinnert an einen schauplatz des grauens. in zwei hallen liegen die zertrümmerten gebeine der opfer frei. hier herrscht absolute stille. ebenso an der steinernen mauer, in die die namen der ermordeten graviert sind. sie ist viele dutzend meter lang. an einigen stellen hat der architekt sie aufgebrochen: hin zum licht und zum leben. und zur zukunft, die mir, mehr denn je, vorkommt wie ein chinesisches ›nie wieder‹.«
Vor wenigen Wochen, auf den Tag genau achtzig Jahre nach der Kapitulation des japanischen Faschismus, feierte Beijing mit einer Serie von Festakten und einer Militärparade auf dem Tiananmen-Platz Chinas Sieg – und stellte das »Nie wieder« unübersehbar ins Licht der Weltöffentlichkeit. 26 Staatsoberhäupter waren während der Feierlichkeiten dabei, die meisten von ihnen Vertreter einstiger Alliierter im antifaschistischen Widerstand (bzw. ihrer Nachfolgestaaten), außerdem waren hochbetagte Veteranen in Beijing zu Gast – chinesische, aber auch US-amerikanische und britische. Vor ihnen verneigte sich Xi Jinping in seiner Ansprache: »Niemals werden wir unsere internationalen Freunde vergessen, die das chinesische Volk bei seinem Widerstand unterstützt und ihm geholfen haben.«
Kaja Kallas aber will von all dem nichts wissen. Und verrät damit vielleicht mehr über den »Westen«, für den sie spricht, als ihr lieb ist.
Hauke Neddermann ist Sinologe. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Institut für kritische Theorie (InkriT). Er ist Redakteur des »Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus« und der Zeitschrift Das Argument.
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