Die Große Säuberung
Von Maik Rudolph
Ölig und scharf hat es gemundet bei »Zhang Mama« auf der Ande-Straße nördlich des zweiten Stadtrings in Beijing. Mittlerweile sind sie wieder umgezogen. Die erste Wahl für Köstlichkeiten à la Mapo Doufu oder das geliebte Hui Guo Rou aus der Sichuan-Küche. Auf dem Heimweg blicke ich auf das Redaktionsgebäude des Gongren Ribao, Zeitung des Gesamtchinesischen Gewerkschaftsbunds. Es geht zurück nach Dongzhimen Nei, erst mal die Straße hinunter zur Gulou Dongdajie, danach der sogenannten Geisterstraße folgen bis zum russischen Kulturzentrum mit der Gagarin-Büste vor der Tür, dann wäre ich schon fast zu Hause. Doch der Schweiß perlt vom Gesicht, es sind 37 Grad Celsius, bestimmt sind schon wieder hundert Tage ohne Niederschlag rum, es ist der späte Hochsommer, die Luftfeuchtigkeit steigt auf 80 Prozent.
Es drückt, es ist bedrückend, der Mund betäubt vom Sichuanpfeffer – taub, aber auch prickelnd, etwas Säure im Nachgeschmack von dem fermentierten Gemüse, den eingelegten Chilischoten und Sojabohnen. Manche sehen Sichuan als die Küche mit den schärfsten Speisen, Hunan ist jedoch heftiger. In Beijing ist alles milder, historische Region des Wohlstands; hier musste zum Pökeln nicht mit Chili gestreckt werden, man hatte das kostbare Salz. Natürlich ist auch das nicht sonderlich scharfe Essen aggressiver als die deutsche Hausmannskost, in der Senf und Pfeffer schon ekstatisch sein können.
Doch dann überkommt es mich und beherrscht meine Sinne: Der Magen rebelliert, der Durchfall drängt. »Laduzi« heißt es im Volksmund. So ging es schon vielen Ausländern vor mir, und auch die 1,4 Milliarden Volksrepublikaner können nicht darüber schweigen. »Klares Wasser und grüne Berge sind so wertvoll wie Berge aus Gold und Silber«, verkündete Xi Jinping am 15. August vor 20 Jahren im kleinen Dorf Yucun, Provinz Zhejiang. Es war der programmatische Startschuss für die »grüne« Transformation des Landes, gerne auch klobig bezeichnet als Aufbau einer »ökologischen Zivilisation«. Doch in einem solchen Moment kann auch schon eine saubere öffentliche Toilette Gold wert sein. Das entging auch dem Generalsekretär der KPCh nicht, als er im selben Jahr den Autonomen Bezirk Yanbian an der Grenze zu Nordkorea besuchte und dort feststellen musste, dass in den Dörfern noch über heruntergekommenen und verdreckten Plumpsklos gehockt wurde. Was tun, wenn der Harn drängt und der Stuhl drückt? Toilettenrevolution!
Hygiene auf der Agenda
»Im Zuge der Modernisierung der Landwirtschaft und des Aufbaus neuer ländlicher Gebiete werden die lokalen Behörden dafür sorgen, dass die Dorfbewohner Zugang zu hygienischen Toiletten haben.« So beschrieb damals Renmin Ribao, das täglich erscheinende Parteiorgan der KPCh, die erwähnte Revolution im Glossar »Xi Jinpings neue Begriffe«, mit denen er 2015 verschiedene Agenden auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Bestätigt wurde das Vorhaben dann auf den Beijinger Festlichkeiten zum 19. November 2015, dem UN-Welttoilettentag, durch den mittlerweile wegen Bestechung inhaftierten, damaligen Direktor der Staatlichen Tourismusverwaltung. Es ist nicht die erste Kampagne zur Förderung der Hygiene in der Volksrepublik. 2022 würdigte Xi Jinping die erste Gesundheitskampagne 70 Jahre zuvor – wenn auch eher mit Blick auf Covid-19 als auf sanitäre Anlagen, da der Fokus in den 1950ern auf der Bekämpfung der Cholera lag.
Doch wenn für die Kampagne die mittlerweile im Ministerium für Kultur und Tourismus aufgegangene Staatliche Tourismusverwaltung zuständig war – geht es gar nicht um die privaten Haushalte und das bessere Leben der Bewohner im ländlichen Raum? Jein. Innerhalb von zwei Jahren wurden 68.000 öffentliche Toiletten renoviert oder errichtet. Gerade in strukturell schwachen, abgelegenen Regionen zielten die Kampagnen zur Bekämpfung absoluter Armut nicht immer darauf, dort zwanghaft zu industrialisieren, statt dessen förderte man den Inlandstourismus. Saubere sanitäre Infrastruktur war vonnöten, um die zahlungskräftigen Großstädter von der Ostküste anzuziehen – mit Scheiße Gold machen.
Dabei wurde strikt durchgegriffen: Der prominenteste Fall ereignete sich bei einer Inspektion im Sommer 2016. Die Shenlongschlucht, ein Tourismusstandort im Verwaltungsgebiet der regierungsunmittelbaren Stadt Chongqing, erfüllte nicht die Anforderungen und hat ihre 5A-Wertung verloren; es ist die höchstmögliche gewesen, die von der Tourismusverwaltung vergeben wurde, respektive heute vom oben erwähnten Ministerium vergeben wird. Von seiten der Verwaltung war von einem »deutlichen Nachzügler der Toilettenrevolution« die Rede, »mit unordentlichen Toiletten, in schmutzigen Zuständen, mit starker Geruchsbelästigung und verschmutzten Armaturen«.
Sanitäre Aufwertung
Innovative Projekte folgten: »Toilettenkabinen für Behinderte und Unisextoiletten, ein Wickelraum, ein Lesebereich, ein Supermarkt, Ladestationen für Elektroautos und sogar für Handys. Es ist die kompletteste öffentliche Toilette, die ich je gesehen habe«, berichtet ein Reisender der Global Times im April 2025. Er spricht von einer Mustertoilette in Hohhot, Hauptstadt der Provinz Innere Mongolei, die zur Blaupause für die Stadtplanung wurde. Ziel der Stadtverwaltung ist es, dass niemand mehr als 500 Meter zur nächsten öffentlichen Toilette zurücklegen muss. 2021 arbeiteten UNICEF und das Ministerium für Landwirtschaft an einem Projekt, um die schwer zugänglichen Orte auf der Qinghai-Tibet-Hochebene, dem »Dach der Welt«, sanitär aufzuwerten. Ein Ergebnis, von dem Xinhua Ende 2023 berichtete, waren solarbetriebene Heizungsanlagen für die Waschräume in einer Schule im auf der Hochebene gelegenen Huashixia. Wo früher übergroße Löcher im spiegelglatten Boden und Moskitos die Schüler abschreckten, sind heute wohltemperierte und mit Raumtrennern aufgeteilte Sanitäranlagen, wenn es auch weiterhin Hocktoiletten sind – das präferierte Porzellan zur Defäkation in China, da es grundlegend leichter zu reinigen und gesundheitlich vorteilhaft ist (die Hockhaltung richtet den Darm gerade aus und erleichtert die Entleerung).
Doch was hat das noch mit Tourismus zu tun? Im November 2017 hat Xi angemerkt, dass der Umgang mit Toiletten keine Nebensache, sondern zentral für die Verbesserung der Lebensumstände in Städten und auf dem Land sei. Bis 2020 sollten demnach weitere 64.000 Kloprojekte angegangen werden und nun auch den privaten Abort bereichern – leider liegen keine Zahlen vor, aus denen hervorgeht, ob dieses Ziel erreicht wurde.
Mit großem Tamtam wurde begleitend eine nationale Toiletten-Cloud aus dem Boden gestampft und in den Äther geladen. Auf dieser Plattform können Toiletten bewertet werden; allerdings wurde nach eigener Erfahrung diese Möglichkeit damals zögerlich bis gar nicht genutzt. Fortschritte gab es dennoch. In den Beijinger Hutongs, Netzen enger, verwinkelter Gassen innerhalb des zweiten Stadtrings, ist es nicht unüblich, dass engmaschig verteilte öffentliche Toiletten zugleich die gar nicht so stillen Örtchen der Anwohner sind. Bis 2020 erlebte ich dort eine deutliche Welle der Aufwertung; Gasse für Gasse, Block für Block wurden saniert.
Maik Rudolph ist Redakteur dieser Zeitung und schreibt regelmäßig über Popkultur, Filme und die VR China. Er hat in Beijing gelebt und gearbeitet
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