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Aus: Antifaschismus, Beilage der jW vom 13.09.2025
80. Tag der Erinnerung und Mahnung

»Es begann mit Begriffen«

Berlin: VVN-BdA will Geschichtsrevisionismus entgegentreten. Kundgebung am Sonntag zum 80. Tag der Erinnerung und Mahnung. Ein Gespräch mit Elke Tischer
Von Gitta Düperthal
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Für Gedenkakte wie diesen am Mahnmal in der Levetzowstraße anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht von 1938 will die VVN-BdA auch mehr junge Menschen mobiliseren (Berlin, 9.11.2024)

Der Tag der Erinnerung und Mahnung soll jährlich am zweiten Sonntag im September dem Erinnern, Mahnen und sich Begegnen dienen, um gemeinsam der Opfer des Faschismus zu gedenken. Wie ist das historisch begründet?

Wir begehen den 80. Jahrestag des Tags der Mahnung. Damals, im Jahr 1945, wendete sich der Hauptausschuss der Opfer des Faschismus (OdF) in Berlin mit der Bitte an den Berliner Oberbürgermeister Arthur Werner, den 9. September zum Gedenktag zu ernennen und ihn gemeinsam mit der Berliner Bevölkerung zu begehen. Anlass war der erste Jahrestag der Ermordung des Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Deutschlands, Ernst Thälmann, der bis 1933 die KPD im Reichstag vertrat, bevor er verhaftet und schließlich elf Jahre später, am 18. August 1944, von Faschisten im KZ Buchenwald erschossen wurde; sowie des Sozialdemokraten Rudolf Breitscheit, der ebenso dort am 24. August 1944 bei einem amerikanischen Luftangriff getötet wurde. Auch wurde der Attentäter des gescheiterten Anschlags vom 20. Juli 1944 gedacht, bei dem Adolf Hitler durch eine Bombe in seiner »Wolfsschanze« sterben und das NS-Regime gestürzt werden sollte. Dem Vorschlag des Ausschusses der OdF entsprach der Berliner Magistrat. Am 9. September 1945 fragte Pfarrer Arthur Rackwitz in der Predigt seine Gemeinde: »Habt ihr wirklich nichts gewusst?«

Welche Rolle spielte Rackwitz?

Er hatte Verfolgte versteckt und jüdischen Menschen zur Flucht verholfen. 1944 wurde er verhaftet, weil er dem später hingerichteten Widerstandskämpfer Ernst von Harnack, einem Mitverschwörer des 20. Juli, Unterschlupf gewährt hatte. Rackwitz wurde ins Konzentrationslager Dachau deportiert. Später konnte er als Überlebender Zeugnis ablegen.

Welche Relevanz hat der Gedenktag?

1945 fand an diesem Tag eine Großkundgebung mit Hunderttausenden statt. Aus allen Berliner Bezirken erfolgten Sternmärsche zur damals umbenannten »Werner-Seelenbinder-Kampfbahn«. Dieser Sportpark trug seither den Namen des 1944 von Faschisten ermordeten kommunistischen Arbeitersportlers und Widerstandskämpfers. An der Spitze der Märsche liefen Überlebende der KZ in ihrer Häftlingskleidung. Informationen dazu findet man in der Ausstellung »Der zweite Sonntag im September«, die bis 31. Oktober in der Galerie »Olga Benario« zu sehen ist. Diese wurde vor 20 Jahren konzipiert vom Ehrenvorsitzenden der Berliner VVN-BdA Hans Coppi und der Sprachwissenschaftlerin Nicole Warmbold, die zur »Lagersprache in den KZ Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald« arbeitete.

Ist es notwendig, sich anders zu erinnern, da nur noch wenige Zeitzeugen leben?

Für uns von der Berliner VVN–BdA ist das ein großes Thema. Ich bin Tochter des Holocaustüberlebenden Kurt Gutmann. Um weiterhin an die Geschichte und die Verbrechen der Faschisten zu erinnern, will unsere Generation den uns übergebenen Staffelstab der Erinnerungsarbeit aufnehmen. Wir versuchen Schulklassen mit einzubinden, mit Stolpersteinen an Menschen zu erinnern, die von den Nazis terrorisiert und umgebracht wurden, organisieren Kiezspaziergänge an Orte des Widerstands. Wir wollen gegen den aktuellen Geschichtsrevisionismus auftreten; dabei mit jungen Antifaschistinnen und Antifaschisten zusammenarbeiten, die die Geschichte aus aktueller Perspektive neu erforschen und erarbeiten. Wir wollen diese lebendig erhalten. Weil so etwas nie wieder passieren darf.

Welche Unterschiede der Erinnerungskultur gibt es Ihrer Erfahrung und Wahrnehmung nach in Ost- und Westdeutschland?

Ich bin 1957 in einen antifaschistischen Haushalt in Ostberlin geboren. Für mich war die Erinnerungskultur in der DDR schwerpunktmäßig durch den kommunistischen Widerstand geprägt. Es wurde aber auch anderer Opfergruppen gedacht. Anders als in der DDR waren Widerstandskultur und Antifaschismus in Westdeutschland kaum staatlich gelenkt. Seit Ende der 1960er Jahre hatten sich politische Gruppen aus der Bevölkerung heraus für ein Erinnern von unten eingesetzt. Auch die VVN engagierte sich, entsprechende Erinnerungsorte zu schaffen.

Wie haben Sie dies nach dem Anschluss der DDR wahrgenommen?

Heute konzentriert sich die staatliche Erinnerungsarbeit auf den bürgerlichen Widerstand, etwa vom 20. Juli oder dem protestantisch geprägten um Sophie Scholl und die »Weiße Rose«. Der von den Faschisten bereits 1933 blutig bekämpfte Arbeiterwiderstand spielt offiziell kaum eine Rolle.

Die VVN-BdA bietet zum Tag der Mahnung ein vielfältiges Programm. Ein Podiumsgespräch am Sonntag trägt den provokanten Titel: »Sprechen wir noch/wieder Nazideutsch?« Was wollen Sie vermitteln?

Wir bitten Sprachwissenschaftler und Publizisten aufs Podium, um Kontinuitäten aus der Nazizeit bis heute zu diskutieren. Völkische Begriffe und eine ausgrenzende Sprache, die Menschen als lebensunwert oder als Schmarotzer stigmatisiert, sind heute erneut zu vernehmen. Unsere Gesellschaft rutscht in eine Schieflage, in der vieles wieder sagbar wird. Sind Hemmschwellen erst mal gefallen, folgt auf verbales Beschimpfen häufig Gewalt. Auch in der Nazizeit begann es mit Begriffen wie Parasiten, unwertes Leben, entartete Kunst. Von der Bevölkerung wurde das aufgenommen und gewaltsam umgesetzt. Fragt sich, was heutzutage auf die Gesellschaft einwirkt und was daraus folgen könnte.

Was ist Ihnen am Tag der Erinnerung und Mahnung wichtig?

Unser Slogan lautet: »Von A wie Ausgrenzung bis Z wie Zusammenhalt – gemeinsam gegen Nazis«. Wir wollen zeigen, dass wir als Menschen nur gemeinsam friedlich zusammenleben können, indem wir uns alle gegenseitig wahrnehmen und achten. Wir laden alle Berlinerinnen und Berliner ein, an diesem Sonntag von 13 bis 19 Uhr auf dem Herrfurthplatz in Berlin-Neukölln der Opfer des Faschismus zu gedenken. Auf der Bühne wird es interessante Gespräche geben, unter anderem mit dem 95jährigen Georg Weise, einem Zeitzeugen des ersten OdF-Tages vor 80 Jahren. Unsere Kampagne »AfD-Verbot jetzt« wird vorgestellt wie auch die Initiative »Widersetzen«. Es gibt Musik mit Kai & Funky von Ton Steine Scherben mit der Sängerin Birte Volta sowie auch von Paul Geigerzähler. An mehr als 25 Ständen kann man mit uns und anderen Initiativen, Gewerkschaften und Vereinen ins Gespräch kommen.

Ein Kritikpunkt an solchen Veranstaltungen ist oftmals, dass sie nur diejenigen erreichen, die bereits überzeugt sind.

Genau das diskutieren wir in der Berliner VVN-BdA. Mit unseren Kiezspaziergängen haben wir gute Erfahrungen, ins Gespräch zu kommen. Sind wir mit Infoständen bei anderen Festen zugegen, kommen Menschen auf uns zu. Sie fragen etwa: »Wieso ein AfD-Verbot? Anhänger der Partei werden damit ja nicht einfach verschwinden, sondern trotzdem weiterhin präsent bleiben.« Oder auch: »Ist denn ein Verbot demokratisch?« Wenn wir Schulen besuchen, hören wir von Jugendlichen schon mal Ansagen: »Wenn Politikerinnen und Politiker so unsozial sind, dann wähle ich einfach mal die AfD.«

Was antworten Sie?

Ich erkläre dann, dass ich mit der aktuellen Regierung auch nicht einverstanden bin, deshalb aber nie auf die Idee käme, Faschisten zu wählen. In der heutigen Zeit darf man keine Partei unterstützen, die, um an die Macht zu gelangen, die Demokratie nutzt, aber sie anschließend zerstören will. Die AfD finanziert sich hauptsächlich darüber, dass sie in den Parlamenten sitzt. Um Faschisten diesen Boden zu entziehen, haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes den Artikel 21 Absatz 2 hineingeschrieben. Danach sind Parteien verfassungswidrig, die »nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden«. Die Parallele zur Nazizeit ist: Hitler hatte zunächst auch nicht mehr als 30 Prozent der Stimmen, als er zum Kanzler gemacht wurde.

Elke Tischer ist Mitglied im Vorstand der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e. V.

Interview: Gitta Düperthal

Programm: tag-der-mahnung.vvn-bda.de

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