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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Essayistik

Das unfassbare Schweigen

Transformation und Klärung: Hans Scheugls autobiographischer Essay »Von fremden Vätern«
Von Florian Neuner
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»Otto« (2020)

Am Anfang steht der Satz: »Den wichtigsten Menschen in meinem Leben kenne ich am allerwenigsten.« Gemeint ist der Vater des Filmemachers und Autors, gefallen im März 1944 an der Ostfront. Hans Scheugl war zu diesem Zeitpunkt vier Jahre alt. Zurück bleiben wenige Erinnerungen, Fotos und Feldpost­briefe sowie die Gewissheit, dass das Leben anders verlaufen wäre, wenn der Vater aus dem Krieg zurückgekommen wäre. Das Schlusskapitel schließlich widmet sich den (Vater-)Rollen, in die User sich auf schwulen ­Datingplattformen begeben bzw. nach denen sie suchen können: »Ältere Seniorenmänner«, »Daddy and Son ­Serious Relation« oder »Mature Gentlemen and Young Boyish Students«. Dazwischen aufgespannt ist ein 300seitiger, reich bebilderter Text, der vom Autobiographischen mehr und mehr ins Essayistische ausgreift.

Die »bedingungslose Zuwendung zur modernen Kunst« war für den jungen Hans Scheugl bald ausgemachte Sache – allein, es war in den 1950er Jahren in seiner Heimatstadt nicht eben einfach, an Informationen zu gelangen. Mal tauchte in einem Schaukasten des Dorotheums ­eine Zeichnung von Egon Schiele auf oder in einer Zeitschrift ein Gedicht von Ernst Jandl; in der Galerie nächst St. Stephan stellten die avanciertesten österreichischen Künstler aus. In der kleinen progressiven Künstlerblase hatte ­Homosexualität allerdings keinen Platz: »In Frankreich mochte es berühmte schwule Künstler geben und von den Genies früherer Jahrhunderte ließen sich mit den Jahren immer mehr auf die schwule Habenseite ziehen, nur in Wien war die Kunstwelt durch und durch hetero – und das schien auch immer so gewesen zu sein.«

Flüchtige Begegnungen in Schwimmbädern und Besuche in Kneipen, in denen jederzeit mit einer Polizeirazzia zu rechnen war, prägten das schwule Leben im Wien der unmittelbaren Nachkriegszeit. Scheugl schreibt: »(…) am allermeisten hasste ich das unfassbare Schweigen, das über allem lag, und das eine Schweigen besonders: mein eigenes.« Noch in den 80er Jahren muss er sich von seinem Kollegen Ernst Schmidt jr. anhören, dass es bedauerlich sei, »dass nicht alle Homosexuellen ins KZ gebracht wurden«. Und als er 1999 im Ritter-Verlag seinen Roman »Der nackte Soldat« publiziert, in dem er – autobiographisch grundiert – schonungslos von der rastlosen Suche eines schwulen Mannes nach Sex erzählt, tut er das unter dem Pseudonym Belmen O.

Beim »2. literarischen cabaret« von Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, ­Gerhard Rühm und Oswald Wiener, bei dem 1959 ein Klavier mit der Axt zerstört wurde, saß Hans Scheugl im Publikum: »Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass hier etwas auf einem internationalen Rang ablief.« Dennoch werden die Fluchtimpulse immer stärker. Das ­Studium an der Wiener Filmakademie ist für Scheugl unproduktiv. Wie viele Künstler zieht es ihn nach Paris, mit Gelegenheitsjobs finanziert er Aufenthalte in Amsterdam, Tanger und Griechenland. 1966 entsteht der erste Film »Miliz in der Früh«, 1968 ist er Teil der Austria Filmmakers Cooperative, in der sich die junge Avantgarde organisiert, und erregt Aufsehen mit »zzz: hamburg special« – der »letzte Film der Filmgeschichte« (Scheugl) besteht aus einem Faden, der statt des Films durch den Projektor läuft und auf der Leinwand einen dunklen Strich erzeugt. So will Scheugl aber nicht weitermachen, fürchtet »selbstreferentielle Erstarrung«. LSD-Trips, das Leben in Kommunen in und um Wien, wo die freie Sexualität schwule Männer freilich ausschließt, schließlich der »Hippie Trail« nach Indien, sind in den frühen 70er Jahren Ausbruchsversuche. Er verlegt sich auf das Schreiben von Büchern, darunter »Sexualität und Neurose im Film« und »Show Freaks & Monster« (beide 1974). Filme entstehen erst wieder in den 80ern, so »Was die Nacht spricht« (1986) in Zusammenarbeit mit Elfriede Jelinek.

Ein US-amerikanischer Freund Scheugls wohnte in den späten 50ern in einem Haus, das sich später als die ­Villa des Dichters Richard Beer-­Hofmann (1866–1945) herausstellt. Ihm, seiner Familie und seinem Werk widmet Scheugl essayistische Exkurse, in denen er auch auf das homoerotisch grundierte Verhältnis eingeht, das der jüngere ­Hugo von Hofmannsthal zu Beer-Hofmann ­hatte. Der zweite Teil des Buches spannt einen weiten Bogen von den Freundschaften, die Dichter wie Friedrich Hölderlin oder Heinrich von Kleist vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Rezeption der griechischen Antike kultivierten, die auch die »Knabenliebe« nicht ausschloss, über die Wiener Moderne – im Fokus u. a. die Beziehung Sigmund Freuds zu Wilhelm Fließ – bis zur schwulen Szene des ausgehenden 20. Jahrhunderts, der Tom of ­Finland mit seinen vor Potenz strotzenden Lederkerlen ikonische Bilder geliefert hat. Ein Detail in der inzwischen abgerissenen Beer-Hofmann-Villa ist Anlass für eine Reflexion über Erinnerungsarbeit: »Ich habe anfangs meine Scheu, hier mein Leben in intimen Details auszubreiten, nur dadurch überwunden, dass ich wusste, dass die Sprache dieses erinnerte Leben von mir abrückt und die Distanz verschafft, die es transformiert und klärt.« Daran lesend teilzuhaben, ist in höchstem Maße anregend.

Hans Scheugl: Von fremden Vätern. Klever-Verlag, Wien 2024, 320 Seiten, 28 Euro

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